Liebe Leserinnen und Leser!
Diese Website erinnert an 86 jüdische Frauen und Männer. Sie waren in verschiedenen europäischen Ländern geboren worden, hatten eine friedliche Kindheit verbracht und eine selbstbestimmte Zukunft vor Augen. Viele waren frisch verheiratet, manche hatten Kinder. Alle standen sie mitten im Leben.
Aber jäh stoppten die Nationalsozialisten diese Lebensläufe. Sie verfolgten Juden nicht nur in Deutschland, sondern weithin in Europa. Sie jagten ihre Opfer aus deren Heimat, wo überall sie wohnten. Wer sich nicht retten konnte, wurde in den Tod getrieben. Über eine Million Morde allein in Auschwitz.
Nur wenige der nach Auschwitz deportierten Menschen konnten das Vernichtungslager wieder verlassen. 29 Frauen und 57 Männer hatten Überlebenshoffnungen, als sie Ende Juli 1943 das KZ in Richtung Frankreich überstellt wurden. Indes war ihr Schicksal längst besiegelt. Zwei SS-Anthropologen waren mit ihrer Selektion beauftragt worden, um sie im KZ Natzweiler-Struthof (Elsass) töten zu lassen. Aus den Leichen sollten an der nahegelegenen Reichsuniversität Straßburg Skelette für rassenideologisch motivierte Forschungen präpariert und in einer um diese Exemplare erweiterten anthropologischen Sammlung des Anatomischen Instituts präsentiert werden.
Das makabre Ausstellungsvorhaben konnten dessen Initiator Prof. Dr. August Hirt - Direktor des Anatomischen Instituts an der Reichsuniversität - und seine Helfer nicht mehr zu Ende führen. Die sterblichen Überreste der Ermordeten wurden nach der Befreiung Straßburgs in einem Massengrab auf dem Jüdischen Friedhof beigesetzt.
Diese 86 Personen sollen nicht vergessen werden. Das ist mein großes Anliegen, darum möchte ich hier ihre Biografien vergegenwärtigen.
Hans-Joachim Lang
Joanne Weinberg, Debbie Konkol und Chris Halverson besuchten auf dem Straßburger Jüdischen Friedhof das Grab, in dem auch ihre Großmutter Alice Simon beerdigt ist. Die Gedenksteinchen hatten sie aus den USA mitgebracht.
Am 27. April 2015 enthüllte Frankreichs Staatspräsident François Hollande (Mitte) mit führenden Europapolitikern im KZ Natzweiler-Struthof einen Gedenkstein mit den Namen der hier ermordeten 86 Jüdinnen und Juden. Bilder: Lang
Die Täter
August Hirt (1898 - 1945)
August Hirt wurde am 29. April 1898 in Mannheim als Sohn eines schweizerischen Stukkateurs und späteren Likörfabrikanten geboren. Der in seinen Leistungen eher schwache Schüler, der 1912 wegen schlechter Noten in Mathematik und Französisch die Obertertia wiederholen musste, zog 1914 als Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg, bis ihn nach zwei Jahren ein Kieferndurchschuss vorübergehend zur Besinnung brachte. Er kehrte an sein Mannheimer Gymnasium zurück und legte 1917 die Reifeprüfung ab.
Als Student der Medizin ließ sich August Hirt in Heidelberg immatrikulieren, wo er zusätzlich zur schweizerischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft erwarb. Er trat in die völkisch-national eingestellte Burschenschaft “Normannia” ein und organisierte nach 1930 - mittlerweile Privatdozent - paramilitärische Wehrsportübungen. Am 1. April 1933 wurde Hirt, jetzt außerordentlicher Professor für Anatomie, Mitglied der SS. Als einen “parvenühaft arroganten Menschen” beschrieb ihn ein späterer Kollege, der ihn als seinen akademischen Lehrer in Heidelberg erlebt hatte.
In den Heidelberger Jahren forschte Hirt über das Nervensystem der Niere und entwickelte zusammen mit dem Pharmakologen Philipp Ellinger einen neuen Typ von Fluoreszenzmikroskop, das als Intravitalmikroskop bekannt wurde. Dieses Instrument ermöglichte es den Wissenschaftlern erstmals, lebende Organe zu untersuchen, denen vorher Farbstoffe zugesetzt worden waren. Hirt und der erfahrenere und ältere Ellinger ließen sich Entwicklung patentieren, die Firma Zeiss in Jena kommerzialisierte die Idee. Trotzdem brach die Beziehung zwischen den beiden Wissenschaftlern ab. Denn Ellinger war Jude. Nachdem Ellinger in die USA emigriert war, hielt seinen früheren Partner niemand und nichts mehr zurück, fortan dessen wissenschaftliche Beiträge zur Intravitalmikroskopie wie auch die Erträge aus den Patentrechten für sich allein zu reklamieren.
Mit dem Ruf auf den Anatomie-Lehrstuhl an der Universität Greifswald kam 1936 der von Hirt lange vergeblich erhoffte Karriereschub. Zwei Jahre später tauschte er den Lehrstuhl mit einem Kollegen aus Frankfurt/Main, dessen Ehefrau das dortige Klima gesundheitlich ebensowenig vertrug wie Hirts Frau das Ostsee-Klima. Wegen seines freiwilligen Kriegsdienstes als Truppenarzt an der Westfront sahen ihn die Frankfurter allerdings nicht gerade häufig im dortigen Forschungsbetrieb. Wie schon in Greifswald leitete Hirt auch in Frankfurt/Main das Anatomischen Institute als Direktor. Und als er in Straßburg ankam, wohin er im Sommer 1941 berufen wurde, kam er in die gleiche Position.
Im frühen 19. Jahrhundert hatten die neu entstandenen anatomischen und pathologischen Institute an den Universitäten begonnen, ebenfalls Sammlungen von Tier- und Humanpräparaten zusammenzustellen und diese auch der Öffentlichkeit zu präsentieren. In ihrer Anschaulichkeit dienten sie dem Erwerb und der Vermittlung von Wissen über den gesunden und den kranken Körper. Das in Deutschland bedeutendste Museum dieser Art gründete gegen Ende des 19. Jahrhunderts Rudolf Virchow in der Berliner Charité. Die Straßburger Sammlung wurde von dem deutschen Anatom Gustav Schwalbe angelegt. Hirt plante in Straßburg, die im Anatomischen Institut vorhandene anthropologische Sammlung auszubauen - und zwar "nach modernen Gesichtspunkten", wie er es einmal formulierte. Also entsprechend den vorherrschenden rassenideologischen Überlegungen. Unterstützt wurde er dabei, nicht zuletzt wegen seiner schweren Erkrankung bald nach seiner Ankunft in Straßburg, von der SS-Wissenschaftsorganisation "Ahnenerbe"
Hirt wollte von 86 jüdischen Frauen und Männern, die er im KZ Natzweiler-Struthof ermorden ließ, deren Körper zu Skeletten präparieren lassen. Er wurde damit ebenso zum Verbrecher wie mit seinen Menschenversuchen an weiteren KZ-Häftlingen, an denen er Gegenmittel zu Kampfgasen erprobte. Skrupellos bezog er außerdem aus nahen Gefangenenenlagern Leichen von russischen Kriegsgefangenen. Diese verwendete er auf verschiedene Weise in der Lehre.
Bei der Ankunft der Alliierten in Straßburg war Hirt gerade im Reichsgebiet rechts des Rheins unterwegs. Er ließ sich dann in Tübingen nieder, wohin die Reichsuniversität Straßburg kriegsbedingt ihren Sitz und zahlreiche Institute verlegte. Einen regulären Wissenschaftsbetrieb konnte der Anatom dort nicht mehr aufziehen. Wenige Tage vor dem Einmarsch der französischen Truppen in Tübingen (19. April 1945) flüchtete der Anatom in die Gegend des Schluchsees im Schwarzwald. Vorübergehend lebte er in einer Waldhütte, dann auf einem Bauernhof in Schönenbach. Am 2. Juni 1945 beendete er sein Leben mit einem Pistolenschuss ins Herz.
Wolfram Sievers (1905 - 1948)
Wolfram Sievers, wurde als Einziger derer, die an der Ermordung der 86 jüdischen Frauen und Männer unmittelbar beteiligt waren, vor dem Nürnberger Ärztetribunal angeklagt. Es war dies das erste von zwölf Verfahren, die sich an den Nürnberger Prozess des Internationalen Militärgerichtshofs gegen die Hauptkriegsverbrecher anschlossen. Das von US-Richtern geführte Gericht unter Vorsitz von General Telford Taylor nahm am 25. Oktober 1946 seine Arbeit auf. Nicht ganz zwei Wochen später wurde den 23 Beschuldigten, hochrangigen NS-Ärzten und Funktionären des NS-Gesundheitswesens, die Anklageschrift zugestellt. Allesamt saßen sie zu diesem Zeitpunkt in Nürnberg in Untersuchungshaft.
Am 20. August 1947, dem 143. Verhandlungstag, gab das Gericht seine Urteile bekannt. Mit sechs weiteren Angeklagten wurde der SS-Standartenführer Sievers zum Tod durch den Strang verurteilt. Ihm war die Teilnahme, zudem als Verantwortlicher, zur Last gelegt worden “an Höhen-, Unterkühl-, Malaria-, Lostgas-, Seewasser-, epidemischen Gelbsucht- und Fleckfieber-Versuchen sowie der Ausrottung von Juden für die Vervollständigung einer Skelettsammlung”.
In der Begründung seines Urteils argumentierte das Gericht, dass Sievers ”praktisch gesehen … der tatsächliche Leiter des Ahnenerbe” gewesen sei. “In dieser Eigenschaft war er Himmler unterstellt und berichtete ihm regelmäßig über die Angelegenheiten dieser Gesellschaft.” Was das in Natzweiler-Struthof verübte Verbrechen an Auschwitz-Häftlingen angeht, habe Sievers “vom ersten Augenblick an” gewusst, “dass Massenmord für die Schaffung der Skelettsammlung geplant” gewesen sei. “Die photographischen Aufnahmen der Leichen und der Sezierräume des Instituts, die von den französischen Behörden nach der Befreiung Straßburgs gefertigt wurden, unterstreichen die grauenhafte Geschichte dieser planmäßigen Morde, an denen Sievers beteiligt war.” Zwar stünden die grundlegenden Richtlinien und die Vorhaben, die er umsetzte, in der Zuständigkeit seiner Vorgesetzten, doch in der Realisierung der Einzelheiten habe er, so das Gericht, “unbegrenzte Entscheidungsvollmacht” gehabt.
In den Morgenstunden des 2. Juni 1948 wurden die Urteile im Hof des Gefängnisses Landsberg am Lech vollstreckt.
Bruno Beger (1911 - 2009)
Erst am 27. Oktober 1970 wurde gegen Bruno Beger und gegen Hans Fleischhacker vor dem Frankfurter Landgericht der Prozess wegen Beihilfe zum Mord eröffnet. Beger musste sich auch als Miturheber des Tötungsplans verantworten. Mit auf der Anklagebank saß Wolf-Dietrich Wolff, Referent von Wolfram Sievers in der Geschäftsstelle des »Ahnenerbes«.
Der Anthropologe des SS-”Ahnenerbe” war 1948 in Darmstadt als »Mitläufer« entnazifiziert worden und arbeitete als kaufmännischer Angestellter in der Papierindustrie. Nach wie vor blieb er seinen alten Forschungsgebieten verhaftet, nun in seiner Freizeit und nicht aus offen rassistischen Motiven. Bereits 1952 startete er wieder zu einer Tibet-Expedition, der noch weitere folgten.
Bruno Beger wurde wegen Beihilfe zu 86-fachem Mord zur Mindeststrafe von drei Jahren verurteilt, seine Untersuchungshaft wurde ebenso angerechnet wie seine Darmstädter Internierungshaft zwischen dem 1. Mai 1946 und dem 2. Februar 1948. Laut Beschluss der 20. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt vom 11. Juli 1977 “wird der noch nicht verbüßte Strafrest aus dem Urteil des Schwurgerichts beim Landgericht Frankfurt/Main vom 6. 4. 1971 in Verbindung mit dem Urteil vom 24. 10. 1973 gemäß § 56g StGB erlassen, da die angestellten Ermittlungen nichts Nachteiliges über die Lebensführung des Verurteilten ergeben haben”.
Bruno Beger ist am 12. Oktober 2009 in Königstein/Taunus gestorben.
Hans Fleischhacker (1912 - 1992)
Erst am 27. Oktober 1970 wurde gegen Bruno Beger und gegen Hans Fleischhacker vor dem Frankfurter Landgericht der Prozess wegen Beihilfe zum Mord in 115 Fällen eröffnet. Beger musste sich auch als Miturheber des Tötungsplans verantworten. Mit auf der Anklagebank saß Wolf-Dietrich Wolff, Referent von Wolfram Sievers in der Geschäftsstelle des »Ahnenerbes«.
Hans Fleischhacker war (wie sein Kollege >Bruno Beger) 1948 von einer Spruchkammer als “Mitläufer” eingestuft worden. Er war, wie auch andere Mitglieder des Lehrkörpers, am 25. Oktober 1945 auf Befehl der französischen Militärregierung “mit sofortiger Wirkung” aus dem Dienst der Universität Tübingen entlassen worden. Zu dieser Zeit befand er sich in amerikanischer Gefangenschaft, zunächst in Karlsbad, dann in Langwasser bei Nürnberg. Schließlich saß er von Dezember 1947 an im französischen Internierungslager Balingen unweit von Tübingen ein. Im März 1948 wurde er in einem “Außendienstkommando” des Lagers beim Landessuchdienst für Kriegsgefangene und Vermisste eingesetzt, einer Dienststelle des Innenministeriums Südwürttemberg-Hohenzollern in Tübingen. Nach seiner Entlassung aus dem Internierungslager blieb Fleischhacker Regierungsangestellter, avancierte zum Abteilungsleiter der Dienststelle und war auch wieder als erbbiologischer Gutachter bei Gerichten zugelassen. Anstelle des ebenfalls suspendierten Wilhelm Gieseler hatte Günther Just, Ordinarius und kommissarischer Leiter des Tübinger Anthropologischen Instituts, 1949 Fleischhackers Wiedereinstellung bei der Universität beantragt: “Die wissenschaftlichen Veröffentlichungen des Betroffenen sind rein fachlicher Natur und haben zur nationalsozialistischen Doktrin keine ersichtlichen Beziehungen.” Offenbar sah man Fleischhackers Tätigkeit von Juni 1941 bis Oktober 1942 als Abteilungsleiter an der “Außenstelle Litzmannstadt des Rasse- und Siedlungshauptamtes” ebenfalls als “rein fachlicher Natur”. Vielleicht, weil er dort Material für seine wissenschaftliche Forschungen sammelte: Fleischhacker habilitierte sich mit einer Arbeit über die Fingerabdrücke von Juden, die er im Ghetto Litzmannstadt - so bezeichneten die Nazis das polnische Lodz - genommen hatte.
Zu seinen Aufgaben in Litzmannstadt hatte auch die Schulung von Rassegutachtern gehört, die “bei der Eindeutschung von Polen” beschäftigt waren. Im November 1950 konnte der Anthropologe seinen wissenschaftlichen Weg an der Frankfurter Universität fortsetzen, war von 1956 bis 1959 Gastforscher an der Universität von El Salvador, von Januar 1960 bis Oktober 1961 wieder Assistent am Tübinger Anthropologischen Institut, fortan Privatdozent am Anthropologischen Institut der Universität Frankfurt, wo er im Mai 1968 wegen des Strafverfahrens vorübergehend vom Dienst suspendiert wurde und nach seinem Freispruch schließlich noch als Professor lehrte. Die Anklage gegen ihn hatten die Frankfurter Richter von dem laufenden Strafverfahren abgetrennt und ihn im März 1971 vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord freigesprochen. Das Richterkollegium hatte ihm die Behauptung abgenommen, dass er von den finalen Folgen seiner anthropologischen Messungen in Auschwitz nichts gewusst habe. Er wie Beger hatten letztlich glaubhaft vorbringen können, ihre Messungen hätten einzig dem Zweck gedient, wissenschaftliche Methoden untereinander abzugleichen, da man unterschiedlichen Schulen entstammte und im »Kommando K« einen gemeinsamen Einsatz als Anthropologen vor sich hatte.
Hans Fleischhacker ist am 30. Januar 1992 in Frankfurt am Main gestorben
Josef Kramer (1906-1945)
Der gelernte Buchhalter, seit 1931 Mitglied in der NSDAP und seit 1932 in der SS, verrichtete in mehreren Konzentrationslagern seinen Dienst. Unter anderem war er vom Oktober 1942 an Kommandant im KZ Struthof-Natzweiler, danach vom Mai bis November 1944 Kommandant in Auschwitz-Birkenau.
Kramer ermordete die 29 Frauen und 57 Männer, deren Leichen vom SS-”Ahnenerbe” für eine Skelettsammlung an der Reichsuniversität Straßburg bestimmt waren. Über seinen Anteil an dem Verbrechen gab er folgenden Bericht. Er beginnt mit dem Mittwoch, 11. August 1943, abends um 21 Uhr, als SS-Männer die ersten 15 der 86 Auschwitz-Häftlinge abholten und mit einem offenen Lastwagen zum »Struthof« fuhren. Kramer befahl ihnen laut eigener Darstellung, dass sie in den Desinfektionsraum gehen müssten, sagte ihnen aber nicht, was ihnen tat-sächlich bevorstand.
Kramer weiter: »Mit Hilfe einiger SS-Leute kleidete ich sie vollständig aus und schob sie in die Gaskammer, als sie vollständig nackt waren. Als die Türe geschlossen war, fingen sie an zu brüllen. Nachdem die Türe geschlossen war, führte ich durch ein Rohr, das oben rechts vom Guckloch angebracht war, eine gewisse Menge von Salzen ein. Sodann schloss ich die Öffnung des Rohres mit einem Kork, der am Ende dieses Rohres angebracht war. Dieser Kork hatte ein Metallrohr. Dieses Metallrohr schleuderte das Salz und Wasser in die Innenseite der Öffnung der Kammer, von der ich gesprochen habe. Ich beleuchtete die Innenseite des Raumes mittels eines Schalthebels, der in der Nähe des Rohres angebracht war, und beobachtete durch das Guckloch, was innerhalb des Raumes vor sich ging. Ich habe gesehen, dass diese Frauen ungefähr noch eine halbe Minute geatmet haben, bevor sie auf den Boden fielen. Nachdem ich die Ventilation innerhalb des Schornsteines in Bewegung gebracht hatte, öffnete ich die Türen. Ich fand diese Frauen leblos am Boden liegen, und sie waren voll bedeckt mit Ausscheidungen. Am nächsten Morgen sagte ich zu den Krankenpflegern der SS, die Leichname in einen kleinen Wagen zu legen – es war ungefähr um 5.30 Uhr –, damit sie in das anatomische Institut gebracht werden könnten, so wie mich Professor Hirt gebeten hatte. Einige Tage später brachte ich unter den gleichen Umständen wiederum eine gewisse Anzahl von Frauen in die Gaskammer, die auf diese Weise vergast wurden. Einige Tage später ging ich wiederum in die Gaskammer, und das wiederholte sich ungefähr zwei oder drei Mal, bis 50 oder vielleicht auch 55 mit den Salzen, die Hirt mir gegeben hatte, getötet waren.«
Kramer konnte offenbar nicht mehr bis 86 zählen, denn 86 Frauen und Männer, und nicht 55, wurden in der Gaskammer vergiftet. Vermutlich verteilte Kramer die Mordaktion auf vier Abende. Nachdem er am 11. August in einem ersten und wahrscheinlich am 13. August in einem zweiten Durchgang die Frauen umgebracht hatte, nahm er sich an zwei weiteren Abenden zwischen dem 14. und 21. August die Männer vor. Wenn zutrifft, was vier ehemalige Gefangene des Lagers aus Luxembourg als Zeugen ausgesagt haben, dann war dies am 17. und 19. August der Fall.
Man wird sich die Einzelheiten nicht dramatisch genug vorstellen können. Als einige der Leichen eineinhalb Jahre später im Keller des Anatomischen Instituts gefunden wurden, konnten bei den Autopsien auch zahlreiche Prellungen und Quetschungen festgestellt werden, die diesen Abenden zuzuordnen sind. Denn mit Sicherheit lassen sich keine 15 Personen ohne Zwang, nackt, in einen nur 2,40 Meter breiten, 3,50 Meter tiefen und 2,60 Meter hohen, dunklen Raum schicken. In verschiedenen Quellen wird behauptet, dass an einem dieser Abende eine Frau, zwei Frauen oder ein Mann auf der Flucht oder wegen Widerstands erschossen wurde. Ich halte diese Darstellungen für falsch, denn sie stammen von Zeugen vom Hörensagen. Dies wird in meinem Buch begründet.
Kramer wurde am 17. November 1945 von einem britischen Militärgericht in Lüneburg zum Tode verurteilt und am 13. Dezember 1945 in Hameln hingerichtet.
An der Reichsuniversität Straßburg:
Morde für die Wissenschaft
Im Juni 1943 selektierten im KZ Auschwitz die beiden Anthropologen Dr. Bruno Beger und Dr. Hans Fleischhacker jüdische Häftlinge, die danach ins KZ Natzweiler-Struthof deportiert und dort von Lagerleiter Josef Kramer in einer improvisierten Gaskammer ermordet wurden. SS-Männer brachten die Leichen ans Anatomische Institut der "Reichsuniversität" Straßburg. Sie wurden von Institutsangestellten konserviert und sollten zu einem späteren Zeitpunkt skelettiert werden. Die fertigen Präparate sollten die Institutssammlung nach rassenbiologischen Gesichtspunkten erweitern. Was ist die Vorgeschichte dieses Wissenschaftsverbrechens, wie ist es abgelaufen, was wurde aus den Leichen tatsächlich? Und überhaupt: Wer waren die Opfer?
Der "Auftrag Beger"
Bruno Beger und Hans Fleischhacker verabredeten sich im Juni 1943 in das KZ Auschwitz zu anthropologischen Messungen an Häftlingen. Auftraggeber der beiden SS-Männer war die SS-Wissenschaftsorganisation „Ahnenerbe“. Seit April 1942 war diese Forschungsgemeinschaft dem persönlichen Stab des SS-Führers Heinrich Himmler unterstellt. Sie förderte archäologische, anthropologische und geschichtliche Forschungen und beteiligte sich am systematischen Kunstraub und an Menschenversuchen. Zu den Brückenköpfen des „Ahnenerbe“ gehörten unter anderem die Universitäten in München und Straßburg.
An der Reichsuniversität im besetzten Straßburg wirkte der Anatom Prof. Dr. August Hirt, der im Auftrag des „Ahnenerbe“ kriegswichtige Forschungen betrieb, zu denen auch Menschenversuche im KZ Natzweiler-Struthof gehörten. Hirt beabsichtigte, die an der Straßburger Universität seit dem 19. Jahrhundert vorhandene Schwalbe'sche Schädelsammlung „nach modernen Gesichtspunkten“ zu ergänzen, wie er im Januar 1945 in einem in Tübingen verfassten Brief erklärte. Die „modernen Gesichtspunkten“ umfassten damals die Behauptung der Nazi-Ideologen, Juden seien eine eigene Rasse. Daraus folgt, dass die Straßburger Anatomische Sammlung um Schädel von Juden erweitert werden sollte. Deren Beschaffung hatte Hirt von Anfang an mit verbrecherischen Methoden geplant. Unter dem Einfluss des „Ahnenerbe“ kam es zu einer Modifikation des im Frühjahr 1942 konzipierten ursprünglichen Projekts. Es entstand der Plan für eine Skelettsammlung von Juden. Deren Opfer sollten nun nicht mehr in Lagern unter sowjetischen Kriegsgefangenen gefunden werden, wie zunächst vorgesehen war, sondern unter Häftlingen in Auschwitz. Wegen einer dort herrschenden Fleckfieber-Epidemie wurde der Plan vorübergehend aufgeschoben. Am 28. April 1943 erfuhr "Ahnenerbe"-Geschäftsführer Wolfram Sievers von Adolf Eichmann aus dem "Judenreferat" des Reichssicherheitshauptamts, es sei nun in Auschwitz „besonders geeignetes Material vorhanden“ und insofern „wäre der Zeitpunkt für diese Untersuchungen besonders günstig“.
An der Münchner Universität betrieb das „Ahnenerbe“ eine Lehr- und Forschungsstätte für Innerasien und Expeditionen, seit Januar 1943 „Sven-Hedin-Institut“ genannt. Ursprünglich diente es ausschließlich der Auswertung der Tibet-Expedition 1938/39. Chef des Instituts, bei der SS im Rang eines Hauptsturmführers, war der Zoologe Dr. Ernst Schäfer, der jene Expedition geleitet hatte. Sein Stellvertreter, Bruno Beger, der als Anthropologe ebenfalls an der Tibet-Expedition teilgenommen hatte, beschäftigte sich an dem Institut weiterhin mit rassenanthropologischen Fragestellungen zu angeblichen „innerasiatischen Rassetypen“ und deren „Übergangsglieder“. Ihm erteilte "Ahnenerbe"-Geschäftsführer Wolfram Sievers den Auftrag, in Auschwitz für Hirts geplante Sammlung 150 Juden zu selektieren und anthropologisch zu vermessen. Im Dienstgebrauch wurde dieser Auftrag nach dem Auftragnehmer geheißen: „Auftrag Beger“.
Sievers begann im Mai 1943 ein Team von Anthropologen zusammenzustellen, dem ursprünglich außer Dr. Bruno Beger noch Dr. Hans Endres (Tübingen), Dr. Hans Fleischhacker (Tübingen) und Dr. Heinrich Rübel (Berlin) angehören sollten. SS-Unterscharführer Endres und SS-Hauptsturmführer Rübel waren nicht abkömmlich. Für den „Auftrag Beger“ verblieben: SS-Hauptsturmführer Bruno Beger und SS-Obersturmführer Hans Fleischhacker, aus München zusätzlich noch Präparator Willi Gabel, der seine Abordnung für „Abformungen von Innerasiaten“ bekommen hatte.
Sammlungen allerorten
Da die Nationalsozialisten Juden als eine eigene Rasse definierten, wollten sie Merkmale finden, die diese Behauptungen begründen. Anthropologen in Wien nutzten die Auflösung jüdischer Friedhöfe, um Skelette auszugraben und sie in ihre Institute zu bringen. Nach Möglichkeit korrelierten sie die Daten von den Grabsteinen mit anderen verfügbaren Daten. In der anthropologischen Abteilung des Wiener Naturhistorischen Museums brüstete man sich schon 1939 damit, 22 Schädel von Juden im Fundus zu haben und damit die größte Sammlung von jüdischen Schädeln im Deutschen Reich. Noch handelte es sich ausschließlich um historische Schädel. Niemand war eigens deswegen ermordet worden. Allerdings war die Methode bereits erprobt, für die Bestückung von anatomischen und anthropologischen Sammlungen Tote auszugraben. Entsprechende Praktiken in kolonialen Kontexten werden erst neuerdings dokumentiert.
Am 8. November 1937 eröffnete im Bibliotheksbau des Deutschen Museums in München auf 3500 Quadratmetern die Propaganda-Ausstellung "Der ewige Jude", an deren Vorbereitung Anthropologen mitgewirkt hatten. Über 400 000 Besucher wurden in nur zwei Monaten gezählt. (Abbildung 1) Sie sahen unter den Exponaten Kopfplastiken von Juden, die als idealtypisch vorgeführt wurden. Eine stammt von dem jüdischen Kommunisten Werner Scholem, der im Februar 1937 ins KZ Dachau eingesperrt wurde, wo ihm Anthropologen einen Gesichtsabdruck genommen hatten.
Abb.1: Wanderausstellung "Der ewige Jude", 1937 eröffnet in München. Kopfplastik von Werner Scholem, der damals im KZ Dachau eingesperrt war.
Die Ausstellung wurde vor 350 000 Besuchern auch in Wien gezeigt, wo im September 1939 eine von Wiener Anthropologen gefertigte Ausstellung folgte mit dem Titel: „Das körperliche und seelische Erscheinungsbild der Juden“. (Abbildung 2) Der Ausstellungsmacher Dr. Josef Wastl wollte nach seinen eigenen Worten beweisen, dass sich das Judentum „sowohl in körperlicher als auch in geistig-seelischer Hinsicht von der deutschen Bevölkerung stark unterscheidet“. Für die Ausstellung hatte Ausstellungsmacher Josef Wastl auch erkennungsdienstliche Porträtfotos verwendet, die er von der Wiener Polizeidirektion erhalten hatte.
Abb.2: Ausstellung "Das körperliche und seelische Erscheinungsbild der Juden” 1939 im Naturhistorischen Museum Wien
Im Magazin des Wiener Naturhistorischen Museum fanden Mitarbeiter Ende der 90er Jahre mehrere Hundert sogenannter Lebendmasken und ausgefüllte anthropologische Erhebungsbogen, die der Anthropologe Wastl und seine „historische Kommission“ von Juden anfertigte. Unter anderem zu diesem Zweck waren sie vor ihrer Deportation ins KZ Buchenwald im Herbst 1939 einige Tage lang im Wiener Stadion interniert worden.
Auch Wastl konnte sich methodisch auf Vorbilder berufen. Sein Amtsvorgänger und universitärer Lehrer Prof. Dr. Rudolf Pöch hatte schon im Ersten Weltkrieg mit 1915 mit Unterstützung des österreichischen Kriegsministeriums anthropologische Untersuchungen an russischen Kriegsgefangenen vorgenommen.
Von Josef Wastl ist auch eine Korrespondenz mit dem Oberpräparator am Anatomischen Institut der Reichsuniversität Posen überliefert. Dieser Oberpräparator fertigte auf Bestellung Präparate von Leichen von KZ-Opfern, die zum Verbrennen ins dortige Krematorium gebracht worden waren. Am 4. März 1942 schrieb er an Wastl nach Wien: „Judenschädel m./ 20 – 50 jährige kann ich Ihnen (…) zum Preis von RM 25,- offerieren, bei denen das genaue Alter und der Geburtsort angegeben werden kann. (…) Ich kann Ihnen zu den Judenschädeln auch Totenmasken der betreffenden Individuen aus Gips liefern im Preise von RM. 15,-. Von besonders typischen Ostjuden könnte ich Ihnen auch Gipsbüsten anfertigen, damit man die Kopfform und die oft recht eigenartigen Ohren sehen kann. Der Preis dieser Büsten würde sich auf 30.- bis 35.- RM stellen.“ Zwei Tage später wurde bestellt, die Abrechnung im Museum wurde unter dem Titel verbucht: „Unterhaltung und Vermehrung der Sammlungen.“
In diesem Kontext ist auch die projektierte jüdische Skelettsammlung an der Reichsuniversität Straßburg zu sehen. Sie sollte dazu dienen, die Bestände des seit dem ausgehenden 17. Jahrhunderten bestehenden (seit dem beginnenden 19. Jahrhundert sprechen die Mediziner in Strasbourg explizit von einem Muséum Anatomique) und Anfang der 1870er Jahre in mehreren Sälen des neu erbauten Anatomischen Institut untergebrachten Anatomischen Museums zu erweitern. Genau so wurde es nach dem Krieg auch von Anatomiehelfer Henri Henrypierre überlieferte. Einer dieser Säle enthielt, wie in verschiedenen anderen deutschen Universitäten, eine anthropologische Sammlung.
Anthropologen in Auschwitz
In der Woche vor Pfingsten 1943 trafen kurz nacheinander die für den „Auftrag Beger“ benannten Wissenschaftler in Auschwitz ein: Wilhelm Gabel am 6. Juni 1943, Bruno Beger am 7. Juni und Hans Fleischhacker am 11. Juni, nachdem er drei Tage zuvor an der Universität Tübingen noch seine Habilitation abgeschlossen hatte. Im so genannten Stammlager von Auschwitz, das mit Ausnahme von Block 10 ein Männerlager war, bezogen die Rassenkundler in dem im sogenannten „Krankenrevier“ gelegenen Block 28 einen Arbeitsraum.
Die Blöcke 10 und 21 befanden sich in unmittelbarer Umgebung. In Block 10, in dem mehrere Ärzte Menschenversuche durchführten, wählten die beiden Anthropologen jüdische Frauen aus, und in Block 21 jüdische Männer. An ihnen vollzogen die Wissenschaftler ihr anthropologisches Repertoire. Fleischhacker nach dem Krieg: „Diese Untersuchungen umfassten Messungen an Kopf und Gesicht, wichtige Körpermaße wie Größe und Spannweite usw., aber auch die Bestimmung der Haut-, Haar- und Augenfarbe mit Hilfe von Bestimmungstafeln und die Bestimmung von zahlreichen morphologischen, also Formmerkmalen wie etwa Kopfform, Stirnform, Hinterhauptform, Nasenform, Mund, Ohr usw.“ Außerdem habe er auch fotografiert und gefilmt, da ihn „die exakte anthropologische Fotografie besonders beschäftigt“ habe.
Die Kommission brach ihre Vermessungen vorzeitig ab, angeblich aus Angst, sich an Fleckfieber anzustecken. Nachdem die Anthropologen nach wenigen Tagen wieder abgereist waren, mussten 29 Frauen und 60 Männer die Wartezeit bis zum Abtransport in Quarantäne verbringen. Am 30. Juli verließen die ausgewählten Opfer in einem Eisenbahnwaggon Auschwitz in Richtung Elsass. Am 2. August trafen sie am Bahnhof Rotau ein. 29 jüdische Frauen und 57 jüdische Männer passierten am 2. August 1943 das Lagertor des KZ Natzweiler-Struthof, diese Zahl ist in Dokumenten exakt überliefert. Das Schicksal der übrigen drei Männer, die in Auschwitz dem Bluttest unterzogen worden waren, ist nicht bekannt. Dabei handelt es sich um Hans Israelski, Erich Markt und Günter Stamm.
86 Morde in der Gaskammer des KZ Natzweiler-Struthof
Kurz vor der Ankunft der 86 Frauen und Männer im Elsass hatte August Hirt den dortigen Lagerleiter Joseph Kramer instruiert, „dass diese Personen in der Gaskammer des Lagers Struthof mit tödlichen Gasen getötet und dann ihre Leichname zum anatomischen Institut gebracht werden sollten, damit er über dieselben verfügen könne“. So bezeugte es Kramer später vor Gericht. Die Gaskammer befand sich außerhalb des engeren Lagerbereichs in einem Nebengebäude des Ausflugshotels Struthof. Es handelte sich um eine ehemalige Kühlkammer, die bereits für Giftgasversuche an Häftlingen zweckentfremdet worden war und für die Morde eigens umgerüstet wurde.
Es war am Mittwoch, der 11. August 1943, abends um 21 Uhr, als SS-Männer die ersten 15 der 86 Auschwitz-Häftlinge zur Gaskammer brachten, allesamt Frauen. Der Raum war 2,40 Meter breit, 3,60 Meter tief und 2,60 Meter hoch. Kramer berichtete in zwei Vernehmungen Einzelheiten. »Mit Hilfe einiger SS-Leute kleidete ich [die 15 Frauen] vollständig aus und schob sie in die Gaskammer. (…) Als die Türe geschlossen war, fingen sie an zu brüllen." Dann führte er Wasser durch ein Rohr, das oben rechts von einem Guckfensterchen angebracht war und in die Kammer hineinführte. Innen tropfte dieses Wasser in ein Loch, das mit einem Gitter verschlossen war und eine Handvoll Calciumcyanid enthielt. Mit unmittelbarer tödlicher Wirkung. Kramer: "Ich beleuchtete die Innenseite des Raumes (…) und beobachtete durch das Guckloch, was (…) vor sich ging. Ich habe gesehen, dass diese Frauen ungefähr noch eine halbe Minute geatmet haben, bevor sie auf den Boden fielen. Nachdem ich die Ventilation innerhalb des Schornsteines in Bewegung gebracht hatte, öffnete ich die Türen. Ich fand diese Frauen leblos am Boden liegen.“
Nach den entsprechenden Prozeduren an drei weiteren Abenden hatte Kramer am 18. August 1943 alle 86 Personen ermordet. Die Leichen transportierten SS-Leute in das Anatomische Institut der Reichsuniversität Straßburg, wo sie von Helfern Hirts im Keller konserviert und in Becken gelagert wurden. Wegen der fehlenden Mazerationseinrichtung verschob Hirt die Skelettmontage auf die Nachkriegszeit.
Unmittelbar vor der Befreiung Straßburgs (23. November 1944) ließ Hirt auf Anweisung aus Berlin die Leichen zerstören – was aber wegen Zeitknappheit nicht komplett gelang. Die Befreier fanden im Anatomiekeller 17 Körper komplett und die Rümpfe von 69 Leichen viergeteilt. Die fehlenden Köpfe waren im städtischen Krematorium verbrannt worden. Nach der Autopsie durch französische Gerichtsmediziner im Juli 1945 wurden im Oktober 1945 die ganzen Leichen im Jüdischen Friedhof Strasbourg-Cronenbourg beigesetzt, die Leichenteile im städtischen Friedhof Robertsau. Erst im September 1951 erfolgte deren Umbettung in das Massengrab in Cronenbourg, auf das genau vier Jahre später ein Gedenkstein gesetzt wurde.
Die Namen der Nummern
Die Namen der Toten konnten in den Stein nicht eingraviert werden, weil sie nicht bekannt waren. Henri Henrypierre, ein elsässischer Mitarbeiter im Anatomie-Institut, hatte die Leichen entgegengenommen, und es waren ihm Nummern an ihren linken Unterarmen aufgefallen, die er ins Leichenbuch eintrug und kurz vor der Befreiung Strasbourgs heimlich kopierte. Davon hat er mehrfach bei seinen Zeugenvernehmungen nach dem Krieg gesprochen, auch beim Nürnberger Militärtribunal. Bei 13 der 17 Leichen und an drei Leichenteilen fanden die Gerichtsmediziner ebenfalls diese Nummern vor, die sie genauso wenig zu deuten wussten wie zuvor Henrypierre. Als bekannt war, dass die Nummern auf das KZ Auschwitz zurückgingen, dauerte es dennoch bis 1970, bis anhand einer dieser Nummern wenigstens eines der 86 Opfer identifiziert wurde: Max Menachem Taffel. Die Nummer ist auf einem Foto zu sehen, das während der gerichtsmedizinischen Untersuchungen aufgenommen wurde. (Abbildung 3)
Abb. 3: Menachem Taffel auf dem Obduktionstisch. Am linken Unterarm
die KZ-Nummer
Die Identifizierung Taffels gelang Hermann Langbein, dem Vorsitzenden des Internationalen Auschwitz-Komitees, mit Hilfe des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen. Am 14. Januar 1995 war Hermann Langbein der erste Adressat, dem ich in einem Brief mitteilte, dass ich entschlossen sei, die Identität auch der übrigen 85 „Ahnenerbe“-Opfer aufzuklären. Nach mehrjährigen Recherchen verlas ich am 21. Oktober 2003 auf einem öffentlichen Kolloquium des Cercle Menachem Taffel in Strasbourg erstmals öffentlich alle 86 Namen. In einer großen Zeremonie auf dem Jüdischen Friedhof in Cronenbourg, einem Vorort von Strasbourg, wurde am 5. Dezember 2005 auf ihrem Grab ein Gedenkstein mit den 86 Namen enthüllt. (Abbildung 4)
Abb. 6: Grabstein auf dem Jüdischen Friedhof in Strasbourg mit den Namen der 86 Opfer. Bild: Lang
Seit ich die KZ-Nummern der 86 Frauen und Männer gefunden und ihre Namen identifiziert habe, gelten alle meine weiteren Forschungen dem Ziel, die zugehörigen Biografien zu rekonstruieren und sie in den Kontexten ihrer Familien zu erinnern.
Hans-Joachim Lang
86 Biografien
Hier erfahren Sie Genaueres über die 86 jüdischen Frauen und Männer, die im August 1943 in der Gaskammer des KZ Natzweiler-Struthof ermordet wurden. Sie kamen aus Norwegen, Polen, Griechenland, Deutschland, Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Nicht selten waren sie schon längere Zeit auf der Flucht vor den Nazi-Verfolgern, ehe sie nach Auschwitz deportiert und von dort in das im Elsass gelegene Konzentrationslager gebracht wurden.
Von einigen dieser 86 Personen konnte ich bisher leider noch wenig in Erfahrung bringen. Aber ich recherchiere weiter. Darum freue ich mich über jede zusätzliche Information. Wenn Sie mir in dieser Hinsicht weiterhelfen können, bitte ich um Mitteilung unter Kontakt.
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A
David Akouni · Bella Alaluf · Israel Albert · Elvira Amar · Emma Amar · Palomba Arnades · Aron Aron · Nety Aruch · Martin Ascher · Esra Asser · Allegra Attas
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B
Ernestine Baruch · Joachim Basch · Joachim Behrendt · Günther Benjamin · Allegre Beracha · Kalman Bezsmiertny · Samuel Bluosilio · Harri Bober · Sara Bomberg · Sophie Boroschek · Nisin Buchar
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C
Rebeca Cambeli · Sarica Cambeli · Elei Cohen · Juli Cohen · Hugo Cohn
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D
Günter Dannenberg · Sabi Dekalo · Kurt Driesen
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E
Aron Esformes · Aron Eskaloni · Ester Eskenazi
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F
Maurice (Moshe) Francès · Abraham Franco · Heinz Frischler
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G
Benjamin Geger · Fajsch Gichman · Brandel Grub
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H
Hugo Haarzopf · Charles Hassan · Alfred Hayum · Rudolf Herrmann · Jacob Herschfeld
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I
Albert Isaac · Israel Isak
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K
Sabetaij Kapon · Maria Kempner geb. Rozen · Levie Khan · Elisabeth Klein geb. Thalheim · Jean Kotz · Paul Krotoschiner
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L
Else Leibholz geb. Seelig · Kurt Levy · Ichay Litchi
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M
Michael Marcus · Maria Matalon · Abraham Matarasso · Lasas Menache · Katerina Mosche
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N
Regina Nachman · Siniora Nachmias · Dario Nathan · Sarina Nissim
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O
Heinrich Osepowitz
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P
Jeanette Passmann geb. Vogelsang · Hermann Pinkus · Jacob Polak
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R
Israel Rafael · Samuel Rafael · Siegbert Meinhardt Rosenthal
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S
Frank Sachnowitz · Marie Sainderichin geb. Brodsky · Albert Saltiel · Maurice Saltiel · Maurice Saporta · Mordochai Saul · Gustav Seelig · Alice Simon geb. Remak · Emil Sondheim · Sigurd Steinberg · Nina Sustil
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T
Menachem Taffel · Martha Testa
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U
Marie Urstein geb. Brandriss
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W
Walter Wollinski
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Vielen Dank allen Unterstützern bei den Recherchen !
An dieser Website und deren inhaltlichen Grundlagen haben zahlreiche Personen aus vielen Ländern mitgewirkt. Sie haben bei den Recherchen geholfen, Texte übersetzt, Dokumente und Fotos beigesteuert. Für mich ist es immer eine große Freude und Motivation gewesen, diesen freundschaftlichen und kollegialen Rückhalt zu haben. Dies wird auch weiterhin gelten, denn das Werk ist noch längst nicht abgeschlossen. Ihnen allen danke ich von ganzem Herzen.
Besonderen Dank möchte ich den Angehörigen der 86 ermordeten Männer und Frauen sagen, die mit persönlichen Erinnerungen, Unterlagen aus ihren Familienarchiven und mit offener Zuneigung dieses Projekt unterstützt haben. Aus den Kontakten und Begegnungen wuchsen Verbindungen, die ich nicht mehr missen möchte.
Großherzig war der Beitrag der Tübinger Kommunikationsdesignerin Christiane Hemmerich. Aus Sympathie für das gemeinsame Anliegen, ein öffentliches Forum für die stete Erinnerung an die 86 zu schaffen, hat sie als ihren persönlichen Beitrag die Website grafisch gestaltet. Danken möchte ich der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, ohne deren finanzielle Unterstützung die Website nicht hätte programmiert werden können. Perfekt umgesetzt hat dies die IT-Expertin Annette Dreher (Ammerbuch)
Hans-Joachim Lang
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INHALT
Werner Renz: Fritz Bauer sells. Kritische Anmerkungen zu Julien Reitzensteins "Anklageschrift" gegen Bruno Beger oder das Verbrechen der "Straßburger Schädelsammlung" als Gegenstand forensischer Geschichtsschreibung. (September 2018)
Hans-Joachim Lang: Nicht alle Besen kehren gut. Julien Reitzenstein fegt durch die Geschichte der 86 Morde im KZ Natzweiler-Struthof. Anmerkungen zu einer Neuerscheinung (April 2018)
Werner Renz
Fritz Bauer sells
Kritische Anmerkungen zu Julien Reitzensteins »Anklageschrift« gegen Bruno Beger oder das Verbrechen der »Straßburger Schädelsammlung« als Gegenstand forensischer Geschichtsschreibung
Mit Fritz Bauer (1903–1968), in den letzten Jahren durch Dokumentar- und Spielfilme zur medialen Größe geworden, kann Aufmerksamkeit erregt, Erinnerungspolitik gemacht, auch Eigenwerbung betrieben werden. Straßen, Plätze und Schulen werden nach dem Justizjuristen, Rechtspolitiker und Aufklärer benannt, Bauer-Preise ausgelobt. Auch in Untertiteln einiger Bücher kommt Bauer heute vor. Selbst der Autor dieser Buchbesprechung ist zu diesen Beispielen zu zählen.[1] Augenscheinlich braucht Deutschland in postheroischen Zeiten verehrungswürdige Vergangenheitshelden. In Sachen NS-Vergangenheit ist Bauer zur bewundernswerten bundesrepublikanischen Ikone geworden, gerade so, als ob nicht in weiteren Bundesländern durch aufklärungswillige Staatsanwaltschaften bedeutende Komplexverfahren vorbereitet worden wären. Bauers Haupttätigkeitsfeld indessen, die von ihm in zahlreichen Veröffentlichungen geforderte Reform des Straf- und Strafprozessrechts sowie des Strafvollzugs, interessiert heute meist wenig.[2] Der reformeifrige Strafjurist, dem es immer um Gegenwart und Zukunft ging, wird auf den vorgeblich unermüdlichen »Nazi-Jäger« reduziert.
Das Verbrechen
Im Juni 1943 reisten die bei der SS-Wissenschaftsgemeinschaft »Das Ahnenerbe« bzw. beim Rasse- und Siedlungshauptamt der SS angestellten Anthropologen Bruno Beger (*1911) und Hans Fleischhacker (*1912) sowie der Präparator Wilhelm Gabel (*1904) nach Auschwitz. Die »Wissenschaftler« hatten den geheimen »Sonderauftrag« Himmlers, »fremdrassische« Häftlinge »anthropologisch« zu erfassen. Ob es bei dem Vorhaben ursprünglich allein um Juden oder auch um sowjetische Kriegsgefangene »inner- bzw. vorderasiatischer« Herkunft ging, ist eine in der Forschung kontrovers diskutierte Frage. Der Plan war, eine »Schädel-« bzw. »Skelettsammlung« aufzubauen. Die Sammlung sollte an der Ende 1941 gegründeten »Reichsuniversität« Straßburg entstehen.
Beger und Fleischhacker vermaßen 115 Häftlinge. Von rund 20 fertigte Gabel Abformungen des Kopfes (Gesichtsmasken) an. 57 Männer und 29 Frauen, allesamt Juden, wurden unter den erfassten 115 Häftlingen ausgewählt und Anfang August 1943 von Auschwitz ins KZ Natzweiler verbracht. In dem im Elsass gelegenen Konzentrationslager führte Beger an den Opfern noch Blutgruppenuntersuchungen durch und machte Röntgenaufnahmen. Nach Abschluss seiner Arbeit ermordete Lagerkommandant Josef Kramer eigenhändig die Frauen und Männer gruppenweise in einer rund 20 Kubikmeter großen Gaskammer (»G-Zelle«). Das für den Mord benötigte Tötungsmittel hatte Wolf-Dietrich Wolff, Persönlicher Referent des Geschäftsführers des »SS-Ahnenerbes«, Wolfram Sievers, von Berlin nach Straßburg gebracht und dem Direktor des Anatomischen Instituts der Reichsuniversität Straßburg, August Hirt, übergeben. Dieser wiederum reichte es an Kramer weiter. Die ermordeten 86 Juden wurden anschließend nach Straßburg transportiert. Dort lagerte Hirt die Leichen im Keller seines Instituts. Einige der Leichname sowie Körperteile fanden die Alliierten im November 1944 im befreiten Straßburg noch vor.
Die Straßburger »Schädel«- bzw. »Skelettsammlung«
Ende 1941 wurde im »SS-Ahnenerbe« der »Vorschlag« erörtert, eine Sammlung von »Judenschädeln« zu schaffen. Sievers hielt in seinem Diensttagebuch den mit Beger besprochenen »Vorschlag« fest und führte Hirt und das SS-Rasse- und Siedlungshauptamt als Kooperationspartner an. Im Februar 1942 leitete der »Ahnenerbe«-Geschäftsführer an Rudolf Brandt (Himmlers Persönlichen Referenten im Persönlichen Stab des Reichsführers-SS) neben einem von Hirt verfassten und unterschriebenen Forschungsbericht als weitere Anlage eine undatierte und nicht unterzeichnete »Denkschrift« weiter. Das 37 Zeilen umfassende Schriftstück betraf die »Sicherstellung der Schädel von jüdisch-bolschewistischen Kommissaren zu wissenschaftlichen Forschungen in der Reichsuniversität Strassburg«.[3] Eingangs wird in der »Denkschrift« festgestellt, dass es von Juden im Gegensatz zu »allen Rassen und Völkern« keine umfangreiche[n] Schädelsammlungen gebe, dass nunmehr aber der »Krieg im Osten […] die Gelegenheit« biete, »diesem Mangel abzuhelfen«. Denn: »In den jüdisch-bolschewistischen Kommissaren, die ein widerliches aber charakteristisches Untermenschentum verkörpern, haben wir die Möglichkeit, ein greifbares wissenschaftliches Dokument zu erwerben, indem wir uns ihre Schädel sichern.« Die Wehrmacht sollte die Gefangenen bereitstellen. Sie seien zu fotografieren und zu vermessen, sodann anschließend zu töten. Der Kopf der Toten sei vom Rumpf zu trennen, wobei er »nicht verletzt werden« dürfe. Die an den »Bestimmungsort«, eben die im Betreff genannte »Reichsuniversität Strassburg«, verschickten Köpfe sollten folgenden Zweck dienen: »An Hand der Lichtbildaufnahmen, der Masse und sonstigen Angaben des Kopfes und schliesslich des Schädels können dort nun die vergleichenden anatomischen Forschungen, die Forschungen über Rassezugehörigkeit, über pathologische Erscheinungen der Schädelform, über Gehirnform und -grösse und über vieles andere mehr beginnen.« Abschließend wird die Straßburger Universität »ihrer Bestimmung und ihrer Aufgabe gemäss« als »die geeignetste Stätte« für die projektierte Schädelsammlung angeführt.[4]
An der Hochschule gab es bereits eine von dem Anatomen Gustav Schwalbe (1844–1916) aufgebaute Sammlung von Schädeln. Im weiteren Schriftverkehr der an dem Verbrechen Beteiligten ist sodann meist von einer Sammlung von Skeletten »Fremdrassiger« die Rede. Beger sollte bereits 1942 seine Reise nach Auschwitz antreten. Eine im Lager ausgebrochene Epidemie verhinderte jedoch das Vorhaben.
Autor Reitzenstein ist der Auffassung, dass Beger, entgegen seinen Einlassungen in dem seit Frühjahr 1960 gegen ihn von der Frankfurter Staatsanwaltschaft geführten Verfahren, allein zu dem Zweck nach Auschwitz gefahren sei, um unter den sowjetischen Kriegsgefangenen des Lagers Menschen »vorder- und innerasiatischer« Herkunft auszusuchen. Erst als er kaum einen »mongolischen Typ« unter den Lagerinsassen gefunden habe und das Unternehmen nicht erfolglos habe abbrechen wollen, habe er als »Alternativprogramm« (S. 234) kurzer Hand und eigenmächtig und um möglicherweise eine »Blamage« (S. 7, 434, 446, 447) zu vermeiden Juden ausgewählt.
Reitzenstein lässt unerörtert, ob Beger nicht Rücksprache zumindest mit seinem Vorgesetzten Sievers hätte halten, mithin die »Freigabe« von Juden anstelle von »Vorder- und Innerasiaten« erbitten müssen. An Juden, wie der Autor wiederholt hervorhebt, sei weder Beger noch Hirt gelegen gewesen.
Hier stellt sich freilich die Frage, wie ein nicht entscheidungsbefugter SS-Angehöriger wie Beger ohne Unterrichtung seiner vorgesetzten Stelle und ohne deren Zustimmung, zumal in klarer Abweichung von Himmler »Sonderauftrag«, einfach Juden auswählen konnte. Selbst im NS-Unrechtsstaat und im rechtsfreien Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz konnten vergleichsweise niedere Chargen der SS nicht nach Gutdünken handeln. Für Reitzenstein stellt sich die Sache ganz simpel dar: »In Ermangelung der intendierten Opfergruppe in Auschwitz«, das heißt: »Inner- und Vorderasiaten« unter den sowjetischen Kriegsgefangenen, »wechselte Beger diese spontan und möglicherweise irrational.« (S. 453. So problemlos stellt sich dem Autor das Befehls-Gehorsams-Verhältnis in der SS dar.
August Hirt oder Bruno Beger?
In der Forschung ist strittig, von wem der von Sievers in seinem Diensttagebuch im Dezember 1941 festgehaltene Vorschlag und die an Brandt im Februar 1942 geschickte »Denkschrift« stammen. Die bisherige Forschung sieht meist in Hirt den Hauptakteur. Reitzenstein hingegen will in seinem Buch den Nachweis erbringen, Vorschlag und »Denkschrift« seien Beger zuzuschreiben.
Die Geschichte des Beger-Verfahrens (1960–1971)
Wie oben bereits erwähnt, ermittelte die Frankfurter Staatsanwaltschaft seit 1960 gegen Beger. Das Beger-Verfahren gilt es an dieser Stelle genau nachzuzeichnen, weil Autor Reitzenstein in seinem Buch das Verfahren oftmals unzutreffend darstellt.
Das Vorverfahren (1960–1968)
Das von der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Frankfurt am Main im Sommer 1959 eingeleitete Ermittlungsverfahren gegen Auschwitz-Personal (4 Js 444/59)[5] brachte es mit sich, dass Bruno Beger als Beschuldigter geführt wurde. In der ersten, auf den 18. Januar 1960 datierten, 599 Namen umfassende Beschuldigtenliste wird unter Nr. 36 aufgeführt:
»Beger, Dr. med. Bruno, geb. 17.4.1911 Lagerarzt in Auschwitz«.[6]
Bereits wenige Wochen nach der Fertigstellung der Liste hatte sich das Wissen der beiden von Fritz Bauer beauftragten Staatsanwälte Joachim Kügler (1926–2012) und Georg Friedrich Vogel (1926–2007) verbessert. Die Staatsanwaltschaft beantragte mit Schreiben vom 18. März 1960 beim Amtsgericht Frankfurt am Main einen Haftbefehl gegen Beger und weitere Beschuldigte. Der in Frankfurt am Main lebende Beger war dringend verdächtig »in Auschwitz im Jahr 1943 […] Menschen getötet zu haben«.[7] Nach den Erkenntnissen der Strafverfolger hatte er
»als SS-Hauptscharführer und Mitglied der Dienststelle ›Ahnenerbe‹ (Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung) in dem Konzentrationslager Auschwitz insgesamt 115 Personen, davon 79 Juden, 2 Polen, 4 Innerasiaten und 30 Jüdinnen, unter den Häftlingen herausgesucht, damit diese von dem Konzentrationslager Auschwitz nach dem Konzentrationslager Natzweiler verbracht, dort getötet und alsdann in die Anatomie der Universität Straßburg überführt werden konnten, wo der ehemalige SS-Hauptsturmführer Professor Dr. Hirth [sic!] die Häftlingsleichen zum Zwecke des Aufbaus einer Sammlung von Skeletten verwerten wollte.«[8]
Das Amtsgericht Frankfurt am Main erließ am 30. März 1960 Haftbefehl, der am Tag darauf vollstreckt wurde.[9] In seiner ersten Einlassung beteuerte Beger, er habe den als »Geheime Reichssache« deklarierten »Sonderauftrag« gehabt, »anthropologische Untersuchungen an Juden vorzunehmen« und »möglichst viele Spielarten der Judenheit festzustellen«. Außerhalb seines Auftrags sei er allerdings auch wegen seiner sonstigen »wissenschaftlichen Tätigkeit natürlich an Innerasiaten interessiert« gewesen. Erst später will er erfahren haben, dass die von ihm ausgewählten und untersuchten Häftlinge für eine »Skelett-Sammlung vorgesehen waren«.[10] In seiner amtsrichterlichen Vernehmung vom 1. April 1960 versicherte der Untersuchungshäftling Beger, dass er »bei Erteilung des Auftrages zur Untersuchung der Juden nicht gewusst habe, welches Schicksal« die Häftlinge erwarte.[11] Auch in seinem Brief vom 4. April 1960 an den das Ermittlungsverfahren führenden Staatsanwalt Kügler, legte er dar, er habe »im KZ Auschwitz eine größere Anzahl Juden anthropometrisch zu bearbeiten«[12] gehabt. Nicht anders ließ sich der Beschuldigte in seinen Vernehmungen durch den Untersuchungsrichter Heinz Düx (1924–2017) im Rahmen der gerichtlichen Voruntersuchung aus: »Der Auftrag ging dahin, eine anthropologische Untersuchung an jüdischen Häftlingen in Auschwitz durchzuführen«.[13] Und im April 1963: »Soweit ich mich erinnere, hat Prof. Hirt nur von einer anthropologischen Untersuchung von Juden gesprochen. Hirt wollte, daß an diesen Juden anthropologische Vermessungen vorgenommen werden.«[14]
Beger war für die beiden, das Auschwitz-Verfahren führenden Staatsanwälte ein Beschuldigter unter vielen und zudem etwas aus dem Rahmen gefallen. Er gehörte nicht zum SS-Personal des Lagers Auschwitz, konnte deshalb auch schwerlich in den geplanten Prozess gegen die SS-Besatzung des Konzentrations- und Vernichtungslagers einbezogen werden.
Als die Frankfurter Staatsanwaltschaft nach rund zwei Jahren wesentliche Ermittlungsergebnisse vorliegen hatte, stellte sie am 12. Juli 1961 bezüglich von 24 Beschuldigten den von der Strafprozessordnung vorgeschriebenen Antrag auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung beim Landgericht Frankfurt am Main. Mit Verfügung vom 19. Juli 1961[15] trennte sie sodann das Verfahren gegen Beger von ihrem Mitte 1959 eingeleiteten Ermittlungsverfahren – das zum 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess, der »Strafsache gegen Mulka u.a.« (1963–1965) führte – ab. Gleichzeitig leitete sie eine neue Js-Sache unter dem Aktenzeichen 4 Js 1031/61 gegen nunmehr 839 Beschuldigte ein, zu denen auch Bruno Beger zählte.
Da das seit Frühjahr 1960 laufende Verfahren gegen Beger bereits ausreichende Ermittlungsergebnisse vorzuweisen hatte, stellte die Strafverfolgungsbehörde im August 1961 im Fall Beger Antrag auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung beim Landgericht Frankfurt am Main.[16] Der beauftragte Untersuchungsrichter Düx eröffnete sie drei Wochen später.[17]
Die Sachbearbeiter Kügler und Vogel waren zur Zeit der Abfassung der im April 1963 eingereichten Anklageschrift in der »Strafsache gegen Mulka u.a.« der Auffassung, dass die Idee zur Schädelsammlung auf August Hirt zurückzuführen sei. In ihrer Anklageschrift heißt es im historischen Teil in einem Abschnitt über die »jüdische Skelettsammlung«:
»Der bei der ehemaligen Reichsuniversität Straßburg als Anatom tätig gewesene Prof. Dr. med. Hirth [sic] entwickelte in seiner Eigenschaft als Mitglied des sogenannten ›Ahnenerbes‹, einer Art Privatuniversität Himmlers, den Gedanken, eine Sammlung von Skeletten von Juden in der Universität Straßburg anzulegen, damit man nach Ausrottung der jüdischen Rasse deren angeblich vorhandene typische anthropologische Merkmale studieren könnte. Himmler hieß den Plan gut. Im Juni 1943 fuhr dann der ebenfalls dem ›Ahnenerbe‹ angehörende SS-Hauptsturmführer Dr. phil. Bruno Beger[18] mit einem Mitarbeiterstab nach Auschwitz und suchte dort 115 Häftlinge, davon 79 Juden, 2 Polen, 4 Innerasiaten und 30 Jüdinnen, unter anthropologischen Gesichtspunkten aus. Diese Häftlinge wurden vermessen, zum Teil wurden noch in Auschwitz Gesichtsmasken von ihnen abgenommen. Am 30.7.1943 wurden diese Häftlinge aus dem Konzentrationslager Auschwitz in das bei Straßburg gelegene Konzentrationslager Natzweiler gebracht. Dort wurden sie unter Aufsicht des Lagerkommandanten [Josef, W.R.] Kramer, der später Kommandant des Lagers Auschwitz-Birkenau wurde, durch Zuführung von Gas ermordet. Die Leichen von etwa 80 Häftlingen wurden dann in die Anatomie der Reichsuniversität Straßburg überführt. Die Herstellung der Skelette verzögerte sich jedoch bis Kriegsende. Die Häftlingsleichen wurden von der einrückenden amerikanischen Armee gefunden. Dieser Sachverhalt ist im einzelnen durch die erhalten gebliebenen Dokumente belegbar. Auf das in diesem Zusammenhang gegen Dr. Beger anhängige Verfahren 4 Js 1013/61[19] Staatsanwaltschaft Frankfurt – in dem zur Zeit die gerichtliche Voruntersuchung läuft – wird Bezug genommen.«[20]
Im Verlauf des Vorverfahrens gerieten zwei weitere Akteure in den Fokus der Justiz. Begers Kollege Hans Fleischhacker und Sievers Persönlicher Referent Wolf-Dietrich Wolff wurden in das Verfahren einbezogen. Gegen die beiden Beschuldigten stellte die Staatsanwaltschaft am 24. Juli 1963 Antrag[21] auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung, die Untersuchungsrichter Düx nach wenigen Wochen eröffnete.[22] Bereits im November 1963 hielt Düx den Zweck der Voruntersuchung gegen Fleischhacker und Wolff erreicht.[23] Förmlich schloss er sie mit Beschluss vom 17. Dezember 1963.[24] Gleichzeitig schloss er die Voruntersuchung gegen Beger.[25] Bereits am 11. April 1963 hatte Düx die Verfahrensakten im Fall Beger an die Staatsanwaltschaft mit der Feststellung zurückgesandt, der »Zweck der Voruntersuchung« sei erreicht.
Am 20. Dezember 1963 begann im Frankfurter Rathaus der Prozess gegen Mulka u.a. andere, der in die bundesrepublikanische Justizgeschichte als der »Auschwitz-Prozess« einging. Zunächst standen 22 Angeklagte vor Gericht. Im Verlauf der Hauptverhandlung schieden zwei aus Krankheitsgründen aus. Das Urteil vom 19./20. August 1965 erging gegen 20 Angeklagte. 17 wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt, drei freigesprochen.
Die starke Beanspruchung durch den Großprozess (183 Verhandlungstage) brachte es mit sich, dass Staatsanwalt Kügler nicht die Zeit fand, die seit der Schließung der gerichtlichen Voruntersuchung im Dezember 1963 anstehende Abfassung der Anklageschrift gegen Beger u.a. in Angriff zu nehmen.
Nach dem im Sommer 1965 verkündeten Urteil im Auschwitz-Prozess wandte sich Kügler mit Schreiben vom 27. August 1965[26] an seinen Behördenleiter Oberstaatsanwalt Dietrich Rahn (1910–1995) und kündigte an, er wolle die allfällige Anklageschrift in Sachen Beger nach der Rückkehr aus seinem Urlaub[27] fertigen. Interessanterweise meinte Kügler in seinem Schreiben, allein Beger und Wolff anklagen zu wollen, während Fleischhacker außer Verfolgung zu setzen sei.
Der Verlauf des Beger-Verfahrens nahm eine gänzlich andere Wendung. Kügler schied Ende 1965 aus dem Justizdienst aus.[28] Sein Kollege Vogel ging an seine Heimatbehörde in Darmstadt zurück. Ein weiterer Vertreter der Anklage im großen Auschwitz-Prozess, Gerhard Wiese (*1928), sah sich gleichfalls außerstande, die Anklageschrift auszuarbeiten. Er vertrat ab Dezember 1965 die Anklage im 2. Auschwitz-Prozess.[29]
Fehlendes geeignetes Personal bei der Frankfurter Staatsanwaltschaft veranlassten Fritz Bauer im Jahr 1966, das Verfahren an seine Behörde zu ziehen.[30] Die beiden Verfahren gegen Beger (4 Js 1031/61) und gegen Fleischhacker und Wolff (4 Js 804/63) wurden verbunden und Mitte 1966 ein neues Ermittlungsverfahren (Js-Sache) mit dem Aktenzeichen Js 8/66 (GStA) von der Behörde des Generalstaatsanwalts eingeleitet.
OStA a.D. Johannes Warlo (*1927) berichtet, er sei im Frühsommer 1966 von Bauer[31] beauftragt worden, die Anklageschrift auszuarbeiten. Allein auf der Grundlage der Akten (Vernehmungsprotokolle und Urkunden (Dokumente)) erstellte er sie.[32] In einem Schreiben vom 1. September 1966 an das hessische Justizministerium meinte Warlo bereits, die Anklageschrift sei »im Konzept fertiggestellt« und werde »gegenwärtig in der Kanzlei geschrieben«. Sie könne »voraussichtlich in 4 Wochen dem Gericht zugeleitet werden«.[33] Doch ihre Fertigstellung verzögerte sich aus verfahrensrechtlichen, an dieser Stelle nicht darzustellenden Gründen.[34] Auch musste noch die Beglaubigung vieler Urkunden (Dokumente) durch diverse Archive eingeholt werden.
Datiert ist die Anklageschrift letztendlich auf den 8. Mai 1968.[35] Unterzeichnet hat sie Fritz Bauer. Angeklagt waren neben Beger und Wolff auch Fleischhacker.
Mit der Einreichung der Anklageschrift beim Landgericht Frankfurt am Main übertrug Bauers Behörde »die Verrichtungen der Staatsanwaltschaft« der ihm nachgeordneten landgerichtlichen Anklagebehörde.[36] Warlo meinte im Interview, es sei schon 1966 entschieden gewesen, dass die Anklage von der Staatsanwaltschaft beim LG Frankfurt am Main und nicht von Bauers Behörde vertreten werde.[37]
Warlos Anklageschrift vom 8. Mai 1968
Staatsanwalt Johannes Warlo gelangte bei seiner Auswertung der Beweismittel zu der Erkenntnis, dass Beger der Autor der oben erwähnten »Denkschrift« über die »Sicherstellung der Schädel von jüdisch-bolschewistischen Kommissaren« sei. Er erachtete es auch als erwiesen, dass der Angeschuldigte Beger von Beginn des Unternehmens »Schädelsammlung« an Kenntnis von dem »Tötungsplan« hatte. In seiner rechtlichen Würdigung qualifizierte Warlo die drei Angeklagten als »Mittäter«.[38] »In Kenntnis des Zieles und der einzelnen Tatumstände des Planes« hätten sie »bewusst und wesentlich die Tötungen gefördert«. Beger und Fleischhacker hätten »die Opfer nach eigenem Gutdünken ausgewählt und die Auswahl der Opfer durch anthropologische Messungen wissenschaftlich untermauert«. Dabei seien sie »in der Auswahl der Opfer völlig frei« gewesen. Zu Beger stellte der Staatsanwalt noch fest, er habe »darüber hinaus als Allein- oder Miturheber des gesamten Projekts ein erhebliches Eigeninteresse bekundet«.[39]
Das Zwischenverfahren (1968–1970)
Die Zulassung der Anklage und die Eröffnung des Hauptverfahrens verlief aus der Sicht der Strafverfolgungsbehörde keineswegs glatt. Das Landgericht Frankfurt am Main eröffnete zwar mit Beschluss vom 16. Oktober 1969[40] das Hauptverfahren gegen Beger und Wolff wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord, setzte aber Fleischhacker außer Verfolgung.[41] Die 3. Strafkammer des Landgerichts war der Auffassung, die Einlassung des Angeklagten Fleischhacker, keine Kenntnis davon gehabt zu haben, dass die »untersuchten Häftlinge zur Anlegung einer Schädel- bzw. Skelettsammlung getötet werden sollten«, sei »auf Grund der durchgeführten Ermittlungen nicht hinreichend zu widerlegen«.[42] Auf die Beschwerde[43] der Staatsanwaltschaft, der der Generalstaatsanwalt[44] beitrat, hob das Oberlandesgericht Frankfurt am Main mit Beschluss vom 26. Januar 1970 den LG-Beschluss auf und eröffnete das Hauptverfahren auch gegen Fleischhacker.[45] Ebenso wie das Landgericht im Fall Beger und Wolff sah das Oberlandesgericht bei Fleischhacker auch nur Beihilfe und nicht wie die Anklage Mittäterschaft als gegeben an.[46] Im Fall Beger hob die Eröffnungskammer des Landgerichts im Gegensatz zu Warlos Anklageschrift hervor, gegen Beger bestehe »kein hinreichender Tatverdacht an der Urheberschaft«[47] des Schädelsammlung-Vorhabens. Sie qualifizierte ihn deshalb nur als Gehilfen und nicht als Mittäter
Fleischhackers Anwälte machten in Karlsruhe noch den Versuch, den Prozess gegen ihren Mandanten zu vermeiden. Ihre Verfassungsbeschwerde vom 4. September 1970[48] wegen vorgeblich nicht ordnungsgemäßer Besetzung des Senats, der den Beschluss vom 26. Januar 1970 gefasst hatte, wurde aber vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen.[49]
Das Urteil von 1971
Erst im Oktober 1970, Fritz Bauer war bereits mehr als zwei Jahre tot, begann der Prozess gegen die drei Angeklagten (4 Ks 1/70). Die Anklage wurde, wie bereits dargelegt, nicht von der Behörde des Generalstaatsanwalts, sondern von der landgerichtlichen Staatsanwaltschaft vertreten. Bei den Anklagevertretern handelte sich um die Staatsanwälte Gerhard Wiese[50] und Reinhard Roth.
Am 3. März 1971 trennte das Gericht[51] das Verfahren gegen Fleischhacker ab und sprach ihn zwei Tage darauf frei.[52] Die Anklagevertretung legte keine Rechtsmittel ein.[53] Einen Monat später, mit Urteil vom 6. April 1971 (nach 31 Verhandlungstagen), wurde Beger wegen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord an 86 Menschen zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das Verfahren gegen Wolff stellte das Gericht ein. Seine Taten waren nach dem 1968 novellierten § 50 Abs. 2 Strafgesetzbuch verjährt.[54]
Nach Auffassung des Gerichts hatte Beger einzig wegen seiner Tätigkeit im August 1943 in Natzweiler Mordbeihilfe geleistet. Als er im KZ die Blutgruppen der 86 Häftlinge bestimmte und ihre Köpfe röntgte, habe er gewusst, dass die Menschen getötet werden sollten. Zur Zeit der Auswahl und nachfolgenden »Vermessung« der Häftlinge in Auschwitz sei ihm ein Wissen um den Tötungsplan zweifelsfrei nicht nachzuweisen. Nicht feststellen konnte das Gericht u.a., ob Beger »ein eigenes Interesse an der Anlegung einer Skelettsammlung jüdischer Menschen hatte«.[55] Für die »Ansicht der Anklagebehörde«, Beger »sei zumindest Miturheber des Gesamtplanes gewesen«, bestand für das Gericht »kein Anhaltspunkt«. Kurz: »Nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung ist nicht ersichtlich, daß er bei der Planung überhaupt aktiv mitgewirkt hat.«[56] Gegen das Beger-Urteil legte neben der Verteidigung[57] auch die Staatsanwaltschaft Revision[58] ein. Sie nahm sie aber mit Schriftsatz vom 26. Mai 1972[59] zurück.
Der »Ankläger« Reitzenstein
Das Landgericht Frankfurt am Main hat in seinem Prozess gegen Beger, Fleischhacker und Wolff nach Ansicht des Autors Reitzenstein Fritz Bauers »letzten Fall« nicht gelöst. Ebenso wenig wie die überwiegende Literatur zur »Straßburger Skelett«- bzw. »Schädelsammlung« habe das Schwurgericht in Beger den Initiator und Exekutoren des Verbrechens sehen wollen.
Durch »forensische Geschichtsschreibung« (S. VIII), eine »Kombination aus Rechtswissenschaften, Rechtsmedizin, Geschichtswissenschaft und weiteren Disziplinen« (ebd.), durch »juristisch klare Sachaufklärung« (S. 16), will Reitzenstein Bauers vorgeblich »letzten Fall« aufklären und abschließen (S. VIII), mithin lösen. Der Autor versteht sein Buch folglich »als Erhärtung des Verdachts, der Fritz Bauer bei seinem letzten Fall antrieb«.[60] Sein Werk »ist damit – in buchhafter Form – auch eine Anklageschrift«, sie ist nach dem Selbstverständnis des forensischen Historikers »Ausgangspunkt eines fiktiven Verfahrens, das eine Superrevisionsinstanz mit der Neubeurteilung des Urteils befasst, welches das Schwurgericht Frankfurt am Main gegen Bruno Beger verhängt hat«. Die Leserinnen und Leser des Buches »besetzen« Reitzenstein zufolge »in diesem Verfahren die Richterbank der Superrevisionsinstanz«. »Die Anklage«, soll heißen: Reitzenstein in selbsternannter Nachfolge Bauers, »wird ihre Fakten vorlegen und ist zuversichtlich, das Gericht«, sprich: das Lesepublikum, »bezüglich Tathergang und Schuld der Angeklagten überzeugen zu können. Dazu wird sie, dazu wird das Buch Fakten darlegen« (alle Zitate: S. IX).
Der Fall Reitzenstein ist interessant und überaus speziell. Gegen das Beger-Urteil vom 6. April 1971 legten, wie bereits oben erwähnt, Anklagevertretung und Verteidigung Revision ein. Im Mai 1972 zog die Staatsanwaltschaft sie jedoch zurück. Die Verteidigung hatte in Karlsruhe insofern Erfolg, als der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 22. März 1973 die Sache an das Schwurgericht »zur Nachholung der Entscheidung über eine eventuelle Anrechnung der« von Beger erlittenen »Internierungshaft sowie zur Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittels«[61] zurückverwies. Das Landgericht Frankfurt am Main hat sodann am 24. Oktober 1973 für Recht erkannt, dass Beger neben seiner rund viermonatigen Untersuchungshaft im Jahr 1960 auch seine Internierungshaft (Mai 1946/Februar 1948) anzurechnen sei.[62] Der »wegen Beihilfe zum gemeinschaftlich begangenen Mord an 86 Menschen«[63] zu drei Jahren Freiheitstrafe musste nach Rechtskraft des Urteils keine Strafhaft mehr antreten. Die Reststrafe wurde ihm 1977 erlassen.[64]
In seinem Buch führt Reitzenstein als Vertreter der Anklage gleichsam eine fiktive Neuverhandlung gegen Beger durch. Das rechtskräftige Urteil gegen den 2009 verstorbenen Angeklagten ist um der Sache willen kurzer Hand gleichsam vom Autor aufgehoben worden. Die geneigte Leserschaft vermag sodann auf der Basis der von Reitzenstein vorgelegten, »Tatsachen« bzw. »Fakten« präsentierenden Anklageschrift, das Urteil des Frankfurter Tatgerichts von 1971 zu revidieren. Ein fürwahr speziell zu nennendes Verfahren: ohne präsenten Angeklagten, ohne präsente Zeugen und ohne Verteidigung. Grundlage seiner »Anklageschrift« (S. IX), seine »Beweismittel«, sind dem Autor die Dokumente, die er durch umfangreiche Archivstudien zusammengetragen hat. Reitzenstein entnimmt ihnen mit auffallender epistemologischer Naivität[65] Tatsachen, die nach der Überzeugung des Autors Beger zweifelsfrei als Täter überführen.
Reitzensteins Anklageschrift von 2018
Bei der Quelle Anklageschrift von 1968 ist Reitzenstein ein nicht geringer Fehler unterlaufen. Er datiert sie auf den 8. Mai 1965, statt auf den 8. Mai 1968. Wie eine Anklageschrift mit dem Aktenzeichen Js 8/66 bereits ein Jahr davor eingereicht werden konnte und warum das Zwischenverfahren (von der Vorlage der Anklageschrift bei LG Frankfurt am Main über die Eröffnung des Hauptverfahrens (Eröffnungsbeschluss) bis zum Beginn der Hauptverhandlung) mehr als fünf Jahre (1965–1970) gedauert haben soll, hat sich der Autor beim Studium der Verfahrensakten und bei der Abfassung seiner »Anklageschrift« offenbar nicht gefragt. Die Datierung auf das Jahr 1965 ist kein Versehen. Explizit heißt es bei Reitzenstein im Vorwort: »Nach umfangreichen Vorermittlungen unterzeichnete Bauer persönlich eine Anklageschrift gegen Bruno Beger und weitere Tatbeteiligte – seine wohl letzte Anklage gegen einen NS-Täter. Diese datiert, möglicherweise zufällig, auf den 8.5.1965, also genau 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa.« (S. VII)
Den Verlauf des Beger-Verfahrens von 1960 bis 1971, als Fritz Bauers »letzter Fall« apostrophiert, hat Reitzenstein nicht rekonstruiert. Fortwährend schreibt er vom »Beger-Prozess«, wenn das acht Jahre dauernde Vorverfahren (1960–1968: staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren und gerichtliche Voruntersuchung) gemeint ist. Reitzenstein meint überdies, durch Michael H. Kater sei »der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer auf den Fall aufmerksam« (S. VII) gemacht worden. Die Möglichkeit ist nicht auszuschließen, sofern Kater, der seine Dissertation über das »Ahnenerbe« »Februar 1966«[66] fertiggestellt und an der Universität Heidelberg eingereicht und 1974 als Buch veröffentlicht hat, sich bereits im Jahr 1960 an Bauer wandte. Einen Beleg liefert der Autor freilich nicht. In seinem Quellenverzeichnis führt Kater »Gedächtnisprotokolle« seiner »Unterredungen« sowie seine Korrespondenzpartner detailliert an. Bauer kommt nicht vor. Ein Schreiben Katers an Bauer vom 5. Januar 1968 liest sich als erste Kontaktaufnahme. Kater weist den hessischen Generalstaatsanwalt auf seine Dissertation von 1966 hin und meint, falls Bauer »in dieser Angelegenheit nicht direkt zustaendig« sei, seinen Brief an den »federfuehrenden Staatsanwalt […] weiterzuleiten«.[67] Bauers Antwort vom 26. Februar 1968 enthält gleichfalls keinen Hinweis auf früher bereits stattgefundene Kontakte.[68]
Unter den verwendeten Beweismitteln führt Warlos Anklageschrift von 1968 im Unterkapitel »Literatur« nur drei Bücher auf: Eugen Kogons Der SS-Staat, Alexander Mitscherlichs und Fred Mielkes Medizin ohne Menschlichkeit und William Shirers Aufstieg und Fall des Dritten Reichs.[69] Katers Doktorarbeit fehlt. Hätte Kater seit 1960 mit Bauer Kontakt gehabt, hätte er seine Dissertation von 1966 dem hessischen Generalstaatsanwalt wohl zugesandt. Wie nachweislich in anderen Fällen auch würde Bauer die wichtige Arbeit seinem von ihm persönlich beauftragten Staatsanwalt für die Ausarbeitung der Anklageschrift zur Verfügung gestellt haben, zumal der Jurist mit dem Fall Beger, der Geschichte des »Ahnenerbes« und mit Auschwitz bis zur 1966 erfolgten Beauftragung durch Bauer noch gar nicht befasst gewesen war.[70]
Warum Auschwitz?
Beger hat von der ersten Vernehmung Ende März 1960 an bis zu seinen letzten Einlassungen vor dem Untersuchungsrichter von Juden gesprochen, die er dem »Sonderauftrag« Himmlers entsprechend zu vermessen hatte. Er konnte sich mithin zu seiner Entlastung auf eine höhere Anordnung berufen, der er interesselos Folge leisten musste. Ganz anders und zu Ungunsten Begers liest sich Reitzensteins Darstellung.
Nach Reitzenstein war es Begers eigentliches Vorhaben, unter den sowjetischen Kriegsgefangenen des Lagers Auschwitz Menschen »vorder- bzw. innerasiatischer« Herkunft zu finden. Beger wollte vorgeblich eine von ihm und auch von Himmler vertretene »Theorie« (S. 347) verifizieren. Dem Tibetologen Beger zufolge hatte es zwei Wanderbewegungen gegeben: Die Einwanderung von »nordischen Menschen« (S. 8) nach Tibet und sodann die Wanderung der »arischen Rasse« von Tibet über den Kaukasus nach Nordeuropa. Begers »Theorie«[71] fasst Reitzenstein folgendermaßen zusammen: »Beger suchte in Tibet nach rassekundlichen Belegen für die Theorie, dass der Ursprung der europäischen Menschen in Tibet liege und Tibet seinerseits von einem Adel regiert wird, der von nordischen Menschen abstamme.« (S. 438)
Reitzensteins Darstellung von Begers Reise im Juni 1943 nach Auschwitz wirft Fragen auf, die im Buch unerörtert bleiben. Anfang März 1942 lebten, als das im Bau befindliche Lager Birkenau mit Häftlingen belegt wurde, von den über 10.000 nach Auschwitz verbrachten sowjetischen Kriegsgefangenen nur noch 945.[72] Am 1. April 1942 waren es noch 352, einen Monat später nurmehr 186. Beim letzten Zählappell am Tag der »Evakuierung« des Lagerkomplexes (17. Januar 1945) waren noch 96 sowjetische Kriegsgefangene am Leben.[73] Größere Transporte von Kriegsgefangenen der Roten Armee nach Auschwitz gab es 1942/43 keine mehr.[74] Der von Sievers in einem Schreiben erwähnte Hinweis Adolf Eichmanns vom Mai 1943, in Auschwitz sei »besonders geeignetes Material« (S. 7, 229 f., 323, 328, 446) für Begers Forschungsvorhaben vorhanden, muss daher unklar bleiben. Kaum anzunehmen, dass der »Juden-Referent« im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) mit den Gegebenheiten in Auschwitz so wenig vertraut war. Über die »Behandlung« der sowjetischen Kriegsgefangenen seit Herbst/Winter 1941 war Eichmann sicher unterrichtet. Wenig wahrscheinlich ist deshalb, dass er im Frühsommer 1943 der Fehlinformation aufsaß, in Auschwitz sei ein Reservoir an sowjetischen Kriegsgefangenen vorhanden, aus dem Beger »mongolische Typen« hätte heraussuchen können. Warum weder Sievers noch Beger sich bei der Lagerverwaltung von Auschwitz über die Zusammensetzung der Häftlingspopulation erkundigt haben, wenn es ihnen tatsächlich, wie Reitzenstein seiner Leserschaft weismachen will, um die Auswahl von »Mongolen« gegangen wäre, ist unerfindlich. Eine Anfrage beim in Oranienburg residierenden SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt erfolgte auch nicht. Das WVHA, dem das KL Auschwitz unterstand, wäre gewiss eine bessere Quelle als Eichmann gewesen. Dokumente über die »Zugangsgenehmigung zum Konzentrationslager Auschwitz« (S. 309) für die drei Akteure und über die »Freigabe der [ursprünglich vorgesehenen, W.R.] 150 Opfer zum Zwecke der Ermordung« (ebd.) sind nicht überliefert. Schwerlich dürfte im Vorfeld der Auschwitz-Reise der Kommandantur von Auschwitz gegenüber als Zweck des Himmlerschen »Geheimen Sonderauftrags« die Suche und Auswahl von »mongolischen Typen« genannt worden sein. Höß hätte das Ersuchen wegen fehlender »Objekte« negativ bescheiden müssen. Beger und seinen Begleitern wäre eine Auschwitz-Reise erspart geblieben.
Kurz: Wenig einleuchtend ist die Version von Reitzenstein, dass alle mit dem »Auftrag Beger« Befassten über die Gegebenheiten in Auschwitz so schlecht informiert waren. Die Annahme liegt deshalb nahe, dass es beim »Auftrag Beger« bzw. beim »Sonderauftrag« Himmlers um jüdische Häftlinge und nicht um Menschen »vorder- und innerasiatischer« Herkunft ging.
Reitzenstein erörtert gleichfalls nicht, dass im Oktober 1942 die jüdischen Häftlinge der auf dem Gebiet des Deutschen Reiches gelegenen Konzentrationslager nach Auschwitz verbracht worden sind. Die KZs auf dem Reichsgebiet sollten nach Himmlers Befehl vom 5. Oktober 1942 »judenfrei« sein. Der von Reitzenstein als gewichtig erachtete Hinweis von Präparator Wilhelm Gabel in einer im Juli 1960 durchgeführten staatsanwaltschaftlichen Vernehmung, man hätte, wäre es um Juden gegangen, doch »viel einfacher und weniger umständlich«[75] (S. 12, 318, 423, 432) jüdische Häftlinge im KZ Dachau finden können, ist deshalb ins rechte Licht zu rücken. Juden in großer Zahl waren seit dem Spätherbst 1942 nur noch in Auschwitz zu finden. Reitzenstein übersieht dieses Faktum und bewertet Gabels Hinweis sogar in seiner Kritik des Urteils vom 6. April 1971 für stichhaltig. Wäre es Beger, so seine wiederholte Darstellung, wirklich um Juden und nicht nach Reitzensteins Version (wenn auch vergeblich) um »Vorder- und Innerasiaten« (S. 11) gegangen, hätte er nicht ins weit entfernte Auschwitz, sondern in ein nahegelegenes Konzentrationslager reisen können. Dieses Argument ist für den Sommer 1943 wenig überzeugend.
Auch mit den in den 1960er Jahren durchgeführten NS-Verfahren ist der Autor schlecht vertraut. So schreibt er vom »seit 1965 geführten Prozess gegen Bruno Beger« (S. 103), obgleich die von ihm ausgewerteten Verfahrensakten doch zeigen, dass das Ermittlungsverfahren bereits 1960 eingeleitet worden ist und der Beger-Prozess, also die öffentliche Hauptverhandlung, 1970/71 stattfand. Am Ende seines Buches meint er sodann recht unverständlich, im Jahr 1964 sei noch kein Ermittlungsverfahren gegen Beger (S. 446) eingeleitet gewesen. Auch weiß Reitzenstein nicht zwischen staatsanwaltschaftlichem Ermittlungsverfahren und gerichtlicher Voruntersuchung zu unterscheiden. Geht es um eine Vernehmung durch den Untersuchungsrichter Düx, schreibt er vom durchgeführten Ermittlungsverfahren (S. 252, 254, 261, 292). Wenig angemessen ist auch, die Vernehmungen von Beschuldigten und Zeugen im Rahmen des Vorverfahrens, seien es staatsanwaltschaftliche oder richterliche, in den Quellenangaben meist als »Aussage« anzuführen. Für die sachkundige Leserschaft seines Buches, zumal sie nach des Autors Intention über Beger zu Gericht sitzen soll, ist durchaus wichtig, von wem und zu welchem Zeitpunkt im Rahmen des Vorverfahrens eine Vernehmung durchgeführt wurde. Richterliche Vernehmungen in der Endphase eines Vorverfahrens sind naheliegender Weise substanzieller als z. B. erste staatsanwaltschaftliche zu Beginn eines Ermittlungsverfahrens.
Unklar bleibt auch Reitzensteins Verständnis juristischer Sachverhalte. So schreibt er: »Da im Beger-Prozess aufgrund fehlender Belege nicht mit absoluter Sicherheit bewiesen werden konnte, dass er Kenntnis von der Ermordungsabsicht bezüglich der nach Natzweiler disponierten Opfer hatte, konnte Beger nur Beihilfe zum Mord nachgewiesen werden.« (S. 406, siehe auch S. 436) Dass Beger vom Gericht als Gehilfe und nicht als Mittäter qualifiziert wurde, hat mit der Frage, ab wann er Kenntnis von der Tötungsabsicht hatte, nichts zu tun. Beger hatte nach Auffassung des erkennenden Gerichts ein als »Sonderauftrag« Himmlers bezeichnetes Vorhaben durchzuführen. Er handelte mithin im Auftrag eines Vorgesetzten und konnte nach der herrschenden Rechtsprechung (subjektive Teilnahmetheorie) als Mittäter nur dann qualifiziert werden, wenn er sich die angeordnete Tat zu eigen gemacht, wenn er sie mit Eigeninteresse und Eifer durchgeführt hat. Diese »innere Einstellung« des Angeklagten Beger zur Tat konnte das Gericht bei der Beurteilung der »inneren Tatseite« mit der erforderlichen Sicherheit nicht feststellen. Für das Gericht hatte Beger zumindest zum Zeitpunkt seiner Tätigkeit in Natzweiler Kenntnis von der Tötungsabsicht. Er leistete im Wissen um den Tötungsplan seinen Gehilfenbeitrag, förderte und unterstützte somit nach Auffassung des Tatgerichts wissentlich und willentlich die Haupttat. Als Gehilfe wurde er qualifiziert, weil er für das Gericht nicht der Taturheber war, die Tat nicht als eigene wollte.
Reitzenstein und die Forschung
Dass neuere Forschung in der Regel ältere revidiert, ist eine Binsenweisheit. Reitzenstein wird in seinem Buch nicht müde, die vorgeblichen Defizite und Falschdarstellungen der bisherigen Forschungsliteratur zum Fall der »Straßburger Schädelsammlung« zu benennen. Fraglos ist seine Quellenbasis beeindruckend, unstrittig hat er Entdeckungen gemacht. Warum er aber fortwährend meint, Historikern und anderen wenig schmeichelhafte Motive zuschreiben zu müssen, ist unerfindlich. So meint er, »unzählige Autoren« seien Beger »auf den Leim« (S. 427) gekrochen. Die Autoren »kolportierten das von [Beger, W.R.] selbst geschaffene Bild des freundlichen Tibetologen, der offenes Interesse an fremden Kulturen und Völkern zeigte, sich als Freund des Dalai Lama inszenierte und der nur einmal als unbedeutender Befehlsempfänger nach Auschwitz geschickt worden sei, ohne den Hintergrund seines dortigen Aufenthalts zu durchschauen« (S. 427). Unerfindlich ist überdies, dass er offenbar meint, »bei der Aufklärung von NS-Unrecht« ginge es oftmals »um Historiker und ihre Netzwerke« und nicht wie bei ihm »um die Opfer und deren Anspruch auf eine sachliche, juristisch belastbare Aufklärung« (S. IX). Manchem Autor und mancher Autorin könnte es durchaus als ehrenrührig erscheinen, wenn Reitzenstein mit Blick auf die von ihm kritisierte Literatur forsch schreibt: »Es ist aber auch unbestreitbar und bis in die jüngste Vergangenheit zu beobachten, dass Kontroversen den Absatz von Büchern zur Freude der Verleger fördern.« (S. 427) Und sodann: »Krochen all diese Autoren – von [Alexander] Mitscherlich [Das Diktat der Menschenverachtung, 1947] bis [Hans-Joachim] Lang [Die Namen der Nummern, 2004] – Beger wirklich auf den Leim? Oder sollten einige ihre Bücher nur deshalb verfasst haben, um ein kontroverses Buch entstehen zu lassen, welches auf diese Weise Umsatz und Erfolg sichern würde.« (S. 428) Scheinbar zutiefst empört meint Reitzenstein, dabei jedweder Insinuation freien Lauf lassend: »So viele Bücher, so viele Vorträge, so viel Geld« (S. 437). Meint Reitzenstein die von ihm oftmals gescholtenen Autoren von Werken über die »Straßburger Schädelsammlung«? Haben sie durch eine Beger schonende, kontroverse Darstellung einzig einen Reibach machen wollen?
Sich selbst betrachtet Reitzenstein als untadeligen und aufrechten Autor, meint er doch betonen zu müssen, er habe sein Buch »nicht geschrieben, um zu gefallen. Es wurde ebenso wenig geschrieben, um sich in bestehende geschichtswissenschaftliche Netzwerke, Denkschulen oder Kontroversen einzuordnen. Dieses Buch wurde geschrieben, um Zeugnis abzulegen.« (S. IX)
Reitzensteins kritische Haltung gegenüber der etablierten, meist universitären und gut bestallten Geschichtsschreibung sowie sein durchaus unkonventioneller Ansatz sind selbstverständlich nur zu begrüßen. Freilich fragt sich der Rezensent, wer jemals ein wissenschaftliches Werk verfasst hat »um zu gefallen«. Steht es so schlecht um das Ethos der Geschichtswissenschaft hierzulande?
Der Autor moniert weiter die fehlende »Untersuchungstiefe« (S. 327) der vorliegenden Forschungsliteratur. Selbst lässt er aber Fragen unberücksichtigt, die sich, wie oben bereits gezeigt, aus der Geschichte von Auschwitz und der NS-Konzentrationslager ergeben. Überhaupt ist er mit Auschwitz wenig vertraut.[76] So schreibt er, Rudolf Höß sei »stellvertretender Lagerkommandant« (S. 327) gewesen, Zyklon B habe man »in handlichen Kartuschen und Ampullen« (S. 360) transportiert. Auch scheint er zu meinen, in der Regel und nicht als seltene Ausnahme sei »nach dem Versterben eines Häftlings dessen Häftlingsnummer erneut vergeben« (S. 407) worden. Eine weitere Formulierung Reitzensteins lässt auf unzureichende Kenntnis schließen. Wie dargelegt, wurden Anfang August 1943 von den 115 Menschen 86 jüdische Häftlinge ins KZ Natzweiler transportiert. Was mit den restlichen 29 Häftlingen geschah, ist ungeklärt. Drei sollen kurz nach ihrer Auswahl verstorben sein. Reitzenstein mutmaßt, dass sie bereits in Auschwitz ermordet und »die Köpfe nach einer Grobentfleischung zu Beger nach Mittersill[77] gesendet wurden« (S. 337). Sodann meint er, dass die 26 verbliebenen Opfer »gruppenweise in Auschwitz vergast« (S. 447) worden seien. Die Gaskammern in Birkenau, in den Monaten März bis Juni 1943 »in Betrieb« genommen, waren so groß, dass eine gruppenweise Tötung wie in der kleinen »Gas-Zelle« in Natzweiler nicht erforderlich war. In der Auschwitz-Forschung ist zudem unstreitig, dass für eine derart kleine Anzahl von Häftlingen keine Gaskammer und kein Zyklon B verwendet worden wäre.
Fraglos mit Fleiß hat Reitzenstein einen umfangreichen Quellenbestand ausgewertet. Seine Forschungsergebnisse werden berücksichtigt werden müssen. Auch sein Bestreben, Begers Anteil an dem Verbrechen anders als die allermeiste Literatur zu gewichten, ist verdienstvoll. Wissenschaft lebt von Revisionen. Doch die für das Buch gewählte Darstellungsform kann nicht überzeugen. Der Autor scheint sich selbst nicht schlüssig zu sein, welche Art von Werk er verfasst hat. Es ist ihm eine »historiographische Chronik« (S. IX), eine »Tatsachenchronik eines Verbrechens und der Vita der Verbrecher« (S. 3) und eine »Anklageschrift« (ebd.) zugleich, er nennt es ein »Kompendium verschiedener chronologischer Ereignisstränge« (S. 18) und keine »stringente Gesamtdarstellung« (ebd.). An anderer Stelle spricht er jedoch davon, »eine geschlossene Darstellung zum Plan der Straßburger Schädelsammlung« (S. 31) vorgelegt und gar eine »rechtsgeschichtliche Studie« (S. 1), ein »rechtshistorische[s] Buch« (S. 19) verfasst zu haben. Wiederholt nennt er sein Werk auch eine »Studie«. Überdies meint er, das Buch sei geschrieben worden, »um Zeugnis abzulegen« (S. IX). Eine derart variierende Selbsteinschätzung muss verwundern. Recht abwegig ist sodann, wenn der Autor meint hervorheben zu müssen, sein Buch sei »ausdrücklich nicht zur Lektüre durch Kinder und Jugendliche empfohlen« (S. 2).
Durch die gewählte Struktur des Buchs nimmt Reitzenstein unzählige Redundanzen in Kauf. Auch verliert er sich in Details, die mit der Darstellung des Verbrechens wenig zu tun haben. Im Vorwort nennt er sein Buch weiter ein »Gemeinschaftswerk vieler Spezialisten, deren Expertise an den notwendigen Stellen benötigt wurde« (S. VIII). Unstrittig hat sich der Autor in Wissenschaftsgebiete eingearbeitet, die dem Zeithistoriker gemeinhin verschlossen sind. Festzuhalten ist freilich, dass Rechtswissenschaftler den Autor bedauerlicherweise nicht darauf hingewiesen haben, dass landgerichtliche Staatsanwaltschaften in Sachen NS-Verbrechen keine »Vorermittlungen« (S. VII) geführt haben. Allein die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung der nationalsozialistischen Verbrechen (Ludwigsburg) hat, da sie keine Staatsanwaltschaft ist, »Vorermittlungen« durchgeführt. Vom Ausgang des Prozesses gegen Beger u.a. meint er, das Verfahren gegen Fleischhacker sei eingestellt (S. 256, 424) worden. Wenige Zeilen später heißt es jedoch, im Fall Fleischhacker sei Freispruch (S. 258) erfolgt. Ebenso zu Wolff: Zum einen meint der Autor, Wolff sei »noch während des Verfahrens freigesprochen« (S. 246) worden, zum anderen verlautet er, »das Verfahren gegen Wolff« (S. 249) sei aufgrund des von Michael H. Kater erstatteten Gutachtens[78] eingestellt worden.
Reitzenstein neigt überdies zu Superlativismus. Hirt ist ihm einer »der grausigsten Gestalten des an grausigen Gestalten nicht armen NS-Regimes« (S. 16), »einer der bekanntesten Täter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft« (S. 429). Der Mord an den 86 Häftlingen erachtet er als »eines der unmenschlichsten NS-Verbrechen« (S. 28).
Fazit
Ist »Fritz Bauers letzter Fall«[79] in Zeiten einer bundesweiten Bauer-Konjunktur schlicht gutem Marketing geschuldet? Mit dem Beger-Verfahren hatte der hessische Generalstaatsanwalt so viel und so wenig zu tun wie mit den vielen anderen NS-Verfahren, die von den neun landgerichtlichen Staatsanwaltschaften Hessens und seiner eigenen Behörde durchgeführt worden sind.[80] Ein Generalstaatsanwalt bearbeitet keine »Fälle«, ermittelt nicht »über Jahre hinweg gegen Bruno Beger […] um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen« (S. 437). Dass Berichte über den Verfahrensstand durch den jeweiligen Behördenleiter über den Generalstaatsanwalt, der die Dienst- und Fachaufsicht über die ihm nachgeordneten Staatsanwaltschaften hat, an das Justizministerium gehen, besagt keineswegs, dass der oberste Strafverfolger in sachlicher Hinsicht intensiv in die einzelnen Verfahren involviert ist. Ebenso wenig ist von Bedeutung, dass eine Anklageschrift die Unterschrift des Behördenleiters trägt. In der Regel unterzeichnen Behördenleiter Anklageschriften. Im Fall des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses und des Verfahrens gegen die beiden Eichmann-Mitarbeiter Hermann Krumey und Otto Hunsche, die maßgeblich an der Deportation der Juden aus Ungarn im Sommer 1944 beteiligt gewesen waren, hat zum Beispiel der Leiter der sogenannten Politischen Abteilung der landgerichtlichen Staatsanwaltschaft, Erster Staatsanwalt Hanns Großmann, die beiden Anklageschriften unterzeichnet. Verfasst hat er sie nicht.
Reitzenstein erbringt mit seinem Buch einen Beitrag zur florierenden Bauer-Hagiographie: »Der legendäre hessische Generalstaatsanwalt und ›Nazi-Jäger‹ Fritz Bauer unterschrieb persönlich die Anklageschrift gegen Bruno Beger als Haupttäter dieser Straftat. Der jüdische Jurist unterstellte August Hirt dabei eine geringere Tatbeteiligung als Beger.« (S. 9) Richtig ist, dass die Anklageschrift vom 8. Mai 1968 die drei Angeklagten als Mittäter qualifizierte. Reitzenstein hingegen sieht allein in Sievers, Hirt und Beger die »Haupttäter« (S. 243), in Fleischhacker, Wolff und anderen hingegen »Personen, die Beihilfe und Unterstützung leisteten« (S. 243). Freilich, auch hier bleibt unklar, ob Reitzenstein in seiner »Anklageschrift« die Begriffe im strafrechtlichen Sinne gebraucht, schreibt er doch an anderer Stelle, es sei »unzweifelhaft, dass Hirt eine wesentliche Beihilfe zu den 86 Morden leistete« (S. 318).
»Forensische Geschichtsschreibung«, die »juristisch klare Sachaufklärung« (S. 16) zu leisten beansprucht, müsste gerade hinsichtlich juristischer Sachverhalte präzise sein und über Sachkunde verfügen. Epistemologische Naivität, die unreflektierte Rede von aus den Dokumenten geschöpften Tatsachen, zeitigt überdies keine überzeugenden Resultate. Reitzenstein hat bei der Abfassung seiner »Anklageschrift« nicht bedacht, was Michael Wildt treffend festgestellt hat: »Die Kluft, die Historiker und Staatsanwälte trennt, ist zu groß, als daß der Versuch, sie zu überspringen oder gar zu ignorieren, nicht Schaden an der eigenen Arbeit nehmen würde.« [81]
Fußnoten:
[1] Werner Renz, Auschwitz vor Gericht. Fritz Bauers Vermächtnis und seine Missachtung, Hamburg: CEP Europäische Verlagsanstalt, 2018. Der Verf. meint freilich, in seinem Buch über die sechs Frankfurter Auschwitz-Prozesse (1963–1981) mit gutem Grund auf Bauer rekurrieren zu können, geht es doch insbesondere um die Darlegung von Bauers Rechtsauffassung, die in den späten Verfahren gegen Demjanjuk, Gröning und Hanning eine Renaissance erlebte. Ebenso ist es gut begründet, im Fall des von Bauer angestrengten Verfahrens gegen die NS-Generalstaatsanwälte und OLG-Präsidenten den hessischen Generalstaatsanwalt hervorzuheben. Siehe Christoph Schneider, Diener des Rechts und der Vernichtung. Das Verfahren gegen die Teilnehmer der Konferenz von 1941 oder: Die Justiz gegen Fritz Bauer, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2017.
[2] Die Herausgabe seiner Aufsätze, Artikel, Interviews und Vorträge hat das Fritz Bauer Institut für Dezember 2018 angekündigt (Lena Foljanty, David Johst (Hrsg.), Fritz Bauer. Kleine Schriften, 2 Bde, New York, Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2018).
[3] Siehe das Faksimile in Julien Reitzenstein, Das SS-Ahnenerbe und die »Straßburger Schädelsammlung« – Fritz Bauers letzter Fall, Berlin: Duncker und Humblot, 2018, S. 212. Das Dokument, es handelt sich um eine Abschrift aus den Unterlagen des »Ahnenerbes«, weist keinen Gebrauch des Buchstaben »ß« auf, selbst bei Wörtern, bei denen die Schreibung mit »ss« vollkommen ungewöhnlich ist.
[4] Zitiert nach dem Faksimile in Reitzenstein, S. 212.
[5] Zur Vorgeschichte des Auschwitz-Prozesses siehe Werner Renz, »Der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess. Völkermord als Strafsache«, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Jg. 15, H. 2, 2000, S. 11–48 und ders., »Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess. Zwei Vorgeschichten«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 50, H. 7, 2002, S. 622–631.
[6] Fritz Bauer Institut (FBI), Sammlung Frankfurter Auschwitz-Prozesse (FAP), Hauptakten (HA), FAP-1/HA-23, Bl. 3745.
[7] FBI, FAP-1/HA-27, Bl. 4672–4681, hier: Bl. 4672.
[8] Ebd. Als Beweismittel verwies die Staatsanwaltschaft auf »Schreiben Reichsführer-SS Persönlicher Stab v. 6.11.1942 an RSHA, Schreiben des SS-Standartenführers Sievers v. 21.6.1943 an RSHA, Telegramm an SS-Hauptsturmführer Prof. Hirth [sic!] vom 30.7.1943. […] Ferner die Ausführungen in dem Buch ›Croix Gammée‹ Seite 858/872« (ebd., Bl. 4673).
[9] Hessisches Hauptstaatsarchiv, Wiesbaden (HHStA), Abt. 461, Nr. 34145, Bl. 6. Mit Beschluss vom 8. August 1960 wurde Beger jedoch unter Aufrechterhaltung des Haftbefehls von der weiteren Untersuchungshaft verschont. Urteil vom 6.4.1971, HHStA, Abt. 461, Nr. 34153, Bl. 1579; ebenso in: C. F. Rüter u.a. (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1999 (JuNSV), Amsterdam, München, 2005, Bd. XXXV, S. 205. Das Amtsgericht beschloss eine Meldeauflage, die erst 10 Jahre später aufgehoben wurde (Beschluss des LG Frankfurt am Main vom 6.11.1970, HHStA, Abt. 461, Nr. 34151, Bl. 1113).
[10] Staatsanwaltschaftliche Vernehmung vom 31.3.1960, HHStA, Abt. 461, Nr. 34145, Bl. 12–15.
[11] Richterliche Vernehmung vom 1.4.1960, ebd., Bl. 21.
[12] Brief vom 4.4.1960 an StA Joachim Kügler, ebd., Bl. 27.
[13] Richterliche Vernehmung vom 14.12.1961, ebd., Bl. 113.
[14] Richterliche Vernehmung vom 9.4.1963, HHStA, Abt. 461, Nr. 34147, Bl. 477.
[15] HHStA, Abt. 461, Nr. 34145, Bl. I–II. Die Verfügung ist den mit arabischen Ziffern paginierten Akten vorangestellt.
[16] Ebd., Bl. 103–105.
[17] Ebd., Bl. 107–108.
[18] Reitzenstein weist darauf hin, Beger habe einen Dr. nat. und keinen Dr. phil (Reitzenstein, S. 202 f.) erworben.
[19] In einer undatierten Beschuldigtenliste der Frankfurter Staatsanwaltschaft heißt es zu Beger: »Mitglied des ›Ahnenerbes‹ oder des ›Instituts Swen [sic!] Hedin‹. Er hat im Juli 1943 im Stammlager 115 Häftlinge ›anthropologisch bearbeitet‹. Die Häftlinge wurden alsdann in das KZ Natzweiler überführt, dort getötet und in die Anatomie der Universität Straßburg verbracht, wo sie dem Aufbau einer Skelett-Sammlung dienen sollten.« (FBI, FAP-1/HA-30, Bl. 5101)
[20] Raphael Gross, Werner Renz (Hrsg.), Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965). Kommentierte Quellenedition. Mit Abhandlungen von Sybille Steinbacher und Devin O. Pendas, mit historischen Anmerkungen von Werner Renz und juristischen Erläuterungen von Johannes Schmidt. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2013, Bd. 1, S. 233.
[21] HHStA, Abt. 461, Nr. 34148, Bl. 225–227.
[22] Beschluss über die Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung vom 19.8.1963, HHStA, Abt. 461, Nr. 34148, Bl. 228–229.
[23] HHStA, Abt. 461, Nr. 34148, Bl. 269.
[24] HHStA, Abt. 461, Nr. 34148, Bl. 273.
[25] HHStA, Abt. 461, Nr. 34147, Bl. 500.
[26] HHStA, Abt. 461, Nr. 34170, Bl. 50–51, ebenso ebd., Nr. 34179, vorgeheftet Bl. 1 d. Handakten.
[27] In den 20 Monaten Prozessdauer hatten die beteiligten Justizjuristen keinen Urlaub nehmen können.
[28] Siehe Bericht vom 24.1.1966 an das Hess. Justizministerium, HHStA, Abt. 461, Nr. 34170, Bl. 58–59.
[29] Zur Geschichte der Frankfurter Auschwitz-Prozesse siehe Renz, Auschwitz vor Gericht, S. 17–144.
[30] Siehe Schreiben der GStA vom 2.6.1966 an StA b. LG FFM, ebd., ohne Foliierung.
[31] Was Bauer motivierte, den Fall Beger mit Nachdruck zu verfolgen, muss offenbleiben. Für Bauer womöglich von Bedeutung war der Umstand, dass sich Beger an den Schriftsteller Rolf Hochhuth mit »Drohbriefen« wandte. Siehe Vermerk von OStA Hanns Großmann (Lt. der polit. Abt. der StA b. LG FFM) vom 24.2.1965. Großmann hatte von Bauer einen Anruf erhalten. Der Generalstaatsanwalt bat um umgehende »Sachstandsmitteilung«, HHStA, Abt. 461, Nr. 34180, Bl. 39. Bauer stand mit Hochhuth in Kontakt und besuchte ihn gelegentlich in Basel, Hochhuths damaliger Wohnort.
[32] Siehe Johannes Warlos Rede anlässlich der Einweihung des »Fritz Bauer Saals« am 17.5.2017 im Landgericht Frankfurt am Main, in: Einsicht 18. Bulletin des Fritz Bauer Instituts (Herbst 2017), S. 59; ebenso abgedruckt in der Broschüre: Der Fritz Bauer Saal im Landgericht Frankfurt am Main. Hrsg.: Landgericht Frankfurt am Main, o.J., ohne Paginierung [2017]. Siehe auch das Interview des Rezensenten mit Warlo vom 18.7.2018 (Archiv des Fritz Bauer Instituts).
[33] Schreiben Warlos vom 1.9.1966 an HJM, HHStA, Abt. 461, Nr. 34170, Bl. 66.
[34] Schreiben Bauers vom 24.10.1966 an HJM, ebd., Bl. 68.
[35] HHStA, Abt. 461, Nr. 34149, Bl. 500–616.
[36] Schreiben Bauers vom 8.5.1968 an HJM, HHStA, Abt. 461, Nr. 34170, Bl. 85.
[37] Siehe Bauers Schreiben vom 8.5.1968 an StA FFM, ebd., Bl. 87–89.
[38] Anklageschrift vom 8.5.1968, HHStA, Abt. 461, Nr. 34149, Bl. 613.
[39] Ebd.
[40] HHStA, Abt. 461, Nr. 34150, Bl. 944.
[41] Ebd., Bl. 945–949.
[42] Ebd., Bl. 946.
[43] Ebd., Bl. 952.
[44] Ebd., Bl. 956–957.
[45] HHStA, Abt. 461, Nr. 34151, Bl. 968–992.
[46] Ebd., Bl. 968.
[47] HHStA, Abt. 461, Nr. 34150, Bl. 944.
[48] HHStA, Abt. 461, Nr. 34151, Bl. 1056–1065.
[49] Beschluss vom 2.10.1970, ebd., Bl. 1069–1071.
[50] Wie oben erwähnt, war Wiese im 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963/65) (zusammen mit seinen Kollegen Hanns Großmann, Georg Friedrich Vogel, Joachim Kügler) und im 2. Frankfurter Auschwitz-Prozess (1965/66) (zusammen mit seinem Kollegen Gerhard Zack) Vertreter der Anklage.
[51] Den Vorsitz führte Landgerichtsdirektor Friedrich Wilhelm Kritzinger (*1928). Die beiden Beisitzer waren Landgerichtsrat Christian Demuth (*1926) (Berichterstatter) und Landgerichtsrätin Johanna Dierks (*1934).
[52] Siehe das Urteil in: JuNSV, Bd. XXXV, S. 57–67.
[53] Schreiben Wieses vom 5.3.1971 an HJM, HHStA, Abt. 461, Nr. 34170, Bl. 141.
[54] Siehe das Urteil in: JuNSV, Bd. XXXV, S. 199–255.
[55] HHStA, Abt. 461, Nr. 34153, Bl. 1572 und in: JuNSV, Bd. XXXV, S. 244.
[56] Ebd.
[57] Ebd., Bl. 1599–1625.
[58] Ebd., Bl. 1590 und Bl. 1596.
[59] Ebd., Bl. 1666.
[60] Am Ende seines Buches schreibt Reitzenstein abermals: »Daraus ergibt sich das Anliegen dieses Buches: Fritz Bauers Verdacht, dass Bruno Beger Urheber und prospektiver Nutznießer des Verbrechens der Straßburger Schädelsammlung war, zu erhärten.« (S. 436)
[61] BGH-Beschluss vom 22.3.1973 (2 StR 293/72), in: JuNSV, Bd. XXXV, S. 252.
[62] Urteil des LG Frankfurt am Main vom 24.10.1973 (4 Ks 1/70), in: ebd., S. 253–255.
[63] Urteil vom 6.4.1971, HHStA, Abt. 461, Nr. 34153, Bl. 1488 und in: JuNSV, Bd. XXXV, S. 201.
[64] HHStA, Abt. 461, Nr. 34153, Bl. 1748.
[65] Siehe hierzu Michael Stolleis, »Der Historiker als Richter – der Richter als Historiker«, in: Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit. Hrsg. von Norbert Frei, Dirk van Laak und Michael Stolleis, München: Verlag C. H. Beck, 2000, S. 173–182.
[66] Das »Ahnenerbe«. Die Forschungs- und Lehrgemeinschaft in der SS. Organisationsgeschichte von 1935 bis 1945. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karl-Universität in Heidelberg, vorgelegt von Michael H. Kater, 1966, S. 572.
[67] Brief Katers an Bauer vom 5.1.1968, HHStA, Abt. 461, Nr. 34180, Bl. 101–101R.
[68] Schreiben Bauers an Kater vom 26.2.1968, ebd., Bl. 103–104. StA Warlo forderte beim Historischen Seminar der Universität Heidelberg mit Schreiben vom 26.2.1968 ein Exemplar von Katers Doktorarbeit an, ebd., Bl. 105. Mit Schreiben vom 31.5.1968 übersandte Warlo eine Kopie der Dissertation dem Vorsitzenden der Eröffnungskammer (HHStA, Abt. 461, Nr. 34154, Bl. 653–655).
[69] Anklageschrift vom 8.5.1968, HHStA, Abt. 461, Nr. 34149, Bl. 508.
[70] Warlo war von Bauer zunächst beauftragt worden, nach Martin Bormann zu suchen. Er ermittelte auch gegen »Euthanasie«-Verbrecher und vertrat die Anklage im 1966/67 durchgeführten Prozess gegen »Euthanasie«-Ärzte vor. Siehe Johannes Warlo, »NSG-Verfahren in Frankfurt am Main. Versuche einer justiziellen Aufarbeitung der Vergangenheit«, in: Ein Jahrhundert Frankfurter Justiz. Gerichtsgebäude A: 1889–1989, hrsg. von Horst Henrichs und Karl Stephan, Frankfurt am Main: Verlag Waldemar Kramer, 1989, S. 155–183.
[71] »Die einzige von Beger zwischen 1941 und 1945 verfolgte These auf dem Gebiet der Anthropologie war […] die Absicht, Wanderbewegungen von Tibet nach Europa nachzuweisen.« (S. 347)
[72] Danuta Czech, Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945. Mit einem Vorwort von Walter Laqueur. Aus dem Polnischen von Jochen August, Nina Kozlowski, Silke Lent, Jan Parcer. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1989, S. 179.
[73] Jerzy Brandhuber, »Die sowjetischen Kriegsgefangenen im Konzentrationslager Auschwitz«, in: Hefte von Auschwitz, H. 4, 1961, S. 29, 31. Czech, Kalendarium, gibt für den 17.1.1945 in der Anm.* auf S. 966 ihres Werks »92 russische Kriegsgefangene« an.
[74] Siehe die Aufstellung von Transporten bei Brandhuber, S. 42.
[75] HHStA, Abt. 461, Nr. 34145, Bl. 53.
[76] Anderswo meint Reitzenstein: »Allein im Warschauer Ghetto verstarben monatlich Tausende Juden aus ganz Europa, aus denen jene hätten ausgewählt werden können, die anthropologisch interessant gewesen wären.« (S. 432) Das Warschauer Ghetto war kein Deportationsziel für »Juden aus ganz Europa«.
[77] Das Reichsinstitut Sven Hedin für Innerasien und Expeditionen, Anfang 1943 begründet, war im August 1943 von München nach Mittersill (Prinzgau/Österreich) verlegt worden (S. 230).
[78] Siehe Katers »Gutachten über die Funktionen des Wolf-Dietrich Wolff in der Forschungs- und Lehrgemeinschaft ›Das Ahnenerbe‹ e.V. von 1939 bis 1945« vom 5.9.1968, HHStA, Abt. 461, Nr. 34150, Bl. 764–767.
[79] Zeitgleich mit dem Beger-Prozess wurde der Prozess gegen den KZ-Arzt Horst Schumann begonnen. Um dessen Auslieferung durch die Regierung in Ghana hatte sich Bauer bemüht. 1971/72 standen erneut vier »Euthanasie«-Ärzte in Frankfurt/M. vor Gericht, gegen die bereits 1966/67 verhandelt worden war. In den 1970er Jahren gab es noch zwei Auschwitz-Verfahren, siehe Renz, Auschwitz vor Gericht, S. 140–144.
[80] Siehe die grundlegende Studie von Matthias Meusch, Von der Diktatur zur Demokratie. Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Hessen (1956–1968), Wiesbaden: Historische Kommission Nassau, 2001 und Andreas Eichmüller, »Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen in Hessen. Die Ära von Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1956–1968)«, in: Einsicht 12 (Herbst 2014), Bulletin des Fritz Bauer Instituts, S. 42–49.
[81] Michael Wildt, »Differenzierte Wahrheiten. Historiker und Staatanwälte als Ermittler von NS-Verbrechen«, in: Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, S. 56.
Dieser Beitrag von Werner Renz ist die erweiterte Fassung seines Aufsatzes, der in der Zeitschrift myops, Heft 34, Jg. 2018, S. 40-53 erschienen ist. Renz war Leiter der Abteilung Archiv und Bibliothek des Fritz-Bauer-Instituts Frankfurt/Main.
Hans-Joachim Lang
Nicht alle neue Besen kehren gut
Julien Reitzenstein fegt durch die Geschichte der 86 Morde im KZ Natzweiler-Struthof. Anmerkungen zu einer Neuerscheinung
Im August 1943 hat eines der bizarrsten Verbrechens, das je im Namen der Wissenschaft begangen wurde, im KZ Natzweiler-Struthof 86 Menschen das Leben gekostet. Die überlieferten Quellen geben keine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Initiator. Nur Schlussfolgerungen sind möglich, darum gehen die Meinungen auseinander.
Im März 2018 erschien eine Studie des Historikers Julien Reitzenstein „Das SS-Ahnenerbe und die ,Straßburger Schädelsammlung‘ – Fritz Bauers letzter Fall.“ Sie will dieses Verbrechen noch besser ausleuchten als es bislang geschehen ist und „juristisch nachvollziehbar“ den „tatsächlichen Hergang der Ermordung von 86 Menschen“ darstellen. (S. 13) Angesichts der zahlreichen Rätsel, die den Fall noch immer umgeben, ist das an und für sich keine unnötiges Unterfangen.
Insbesondere gilt es zu fragen: Gab Professor August Hirt, der zu der Zeit an der deutschen Reichsuniversität Straßburg den Lehrstuhl für Anatomie innehatte, den einzig auslösenden Anstoß zu den Morden? Oder war er zwar nicht der Initiator, aber der skrupellose Mittäter aus optimierendem Eigeninteresse? Oder betätigte er sich lediglich als „dienstleistender Präparationspate“ (S. 454) eines ambitionierten Anthropologen, wie es Reitzenstein in seiner umfangreichen Studie nahelegt? Nur darum geht es in meinen folgenden Anmerkungen dazu.
Nach der Beweisführung Julien Reitzensteins, der sich mental in der Nachfolge des legendären Generalstaatsanwalts Fritz Bauer als neuer Chefankläger fühlt, erscheint der karriere-ambitionierte Bruno Beger als der Hauptverantwortliche für die Ermordung der 86 Jüdinnen und Juden. Aber nicht, weil er sich an der Erforschung einer angeblichen jüdischen Rasse beteiligen wollte. Denn wie hinlänglich bekannt, interessierte sich der promovierte Anthropologe und Mitarbeiter der SS-Wissenschaftsorganisation „Ahnenerbe“ seit einer Tibet-Expedition primär für die Herkunft der Arier, die er in Tibet verortete – quasi dem Atlantis der „nordischen Menschen“. Sie sollen sich dann, so die von ihm geglaubte Theorie, im Laufe der Geschichte in Richtung Mitteleuropa ausgebreitet haben. In groß angelegten Expeditionen des „Ahnenerbe“ wollte Beger anhand von anthropologischen Messungen die Wanderungsbewegungen an vermuteten typischen Merkmalen an Kopf und Schädel ausgewählter Sowjetbürger nachvollziehen. Solche Daten sollten nicht in harmlosen wissenschaftlichen Erhebungen gewonnen werden, vielmehr scheute sich die SS-Wissenschaftsorganisation auch nicht, wie eine im Herbst 1942 / Frühjahr 1943 geplante (aber nicht realisierte) Expedition („Sonderkommando K“) in den Kaukasus vor Augen führt, mit verbrecherischen Methoden zu den erhofften Ergebnissen zu gelangen.
Dasselbe galt für einen Plan der „Sicherstellung der Schädel von jüdisch-bolschewistischen Kommissaren zu wissenschaftlichen Forschungen in der Reichsuniversität Straßburg“. Auf dieser in der seit dem Nürnberger Ärzteprozess schon viel zitierten „Denkschrift“ war allerdings weder ein Datum angegeben noch ein Verfasser ausgewiesen. Sie lag einem Konvolut bei, das über August Hirts Forschungsinteressen Auskunft geben sollte und von SS-„Ahnenerbe“-Geschäftsführer Wolfram Sievers am 9. Februar 1942 als „vorläufiger Bericht“ an SS-Führer Heinrich Himmler weitergeleitet wurde, der Hirts Interessen besonders zu fördern gedachte. „Nahezu von allen Rassen und Völkern sind umfangreiche Schädelsammlungen vorhanden. Nur von den Juden stehen der Wissenschaft so wenig Schädel zur Verfügung, daß ihre Bearbeitung keine gesicherten Ergebnisse zuläßt“, beschreibt diese „Denkschrift“ das Motiv und die Ziele des Plans. Der Krieg im Osten, präzisiert sie dann mit Blick auf den am 22. Juni 1941 begonnenen Krieg gegen die Sowjetunion, biete jetzt Gelegenheit, „diesem Mangel abzuhelfen … indem wir ihre Schädel sichern“. Durch Morde.
Diese Schrift gilt als eines der Schlüsseldokumente, warum im Sommer 1943 in Auschwitz 86 Juden selektiert, im KZ Natzweiler-Struthof ermordet und zur Weiterverwendung an das Anatomische Institut der deutschen Reichsuniversität Straßburg gebracht wurden. Reitzenstein ist sich sicher, dass deren Verfasser nicht August Hirt ist, sondern Bruno Beger. Hirt habe in „pervertierter ,Kameradschaft‘“ (S. 428) zugestimmt, dass dieses Papier als sein Anliegen Himmler unterschoben wurde. Ja, Reitzenstein hält es nicht einmal für ausgeschlossen, dass Hirt im Februar 1942 gar keine Kenntnis von diesem Plan hatte. Eine gewiss eigentümliche Sicht auf den Anatomie-Professor, der in jenen Monaten zwar bei Giftgas-Experimenten an Ratten eine Lungenverletzung davongetragen und obendrein in seiner Arbeitskapazität überlastet war, aber in seiner Umgebung als durchsetzungsstark empfunden wurde.
Den Widerspruch von Begers eigenen Interessen und der in der „Denkschrift“ beschriebenen „Sicherstellung“ von Schädeln jüdischer Gefangener erklärt Reitzenstein damit, „dass der Begriff Jude bei diesem Verbrechen stets metonym oder synonym für asiatische Kriegsgefangene der Roten Armee verwendet wurde“. (S. 432)
Von der zweiten Septemberwoche 1942, als der Plan konkret zu werden schien, wurde das Vorhaben wegen einer Fleckfieber-Epidemie im KZ Auschwitz auf den Frühsommer 1943 verschoben. Ende April 1943 erhielt Sievers von Eichmann die Nachricht, dass jetzt in Auschwitz „besonders geeignetes Material vorhanden“ sei zur Verwirklichung der geplanten Sammlung. Darum, schließt Reitzenstein messerscharf, „darf angenommen werden, dass es sich um Inner- und Vorderasiaten handelte, die Adolf Eichmann für Beger unter den sowjetischen Kriegsgefangenen ermittelt hatte“. (S. 230) Auch Eichmann also ein Dienstleister von Bruno Beger? Obendrein ein höchst tölpelhafter, der keine Ahnung hatte von den tatsächlichen Vorgängen in Auschwitz?
Eines Fritz Bauers, auf den sich Reitzenstein mit seiner artifiziellen Beweisführung beruft, sind solche Behauptungen unwürdig. Denn Bauer wusste mit Sicherheit, dass zu dieser Zeit nur relativ wenige sowjetische Soldaten in Auschwitz, Hunderttausende aber an anderen Orten gefangen waren. Im Herbst 1941 hatte die SS im Stammlager Auschwitz links des Eingangstors neun Blöcke für ein russisches Kriegsgefangenenlager abgetrennt. Rund 10 000 Mann waren dort im Oktober 1941 eingewiesen worden. In den nächsten Monaten waren sie dafür eingesetzt worden, in Birkenau ein riesiges Vernichtungslager aufzubauen. Am 1. März 1942, dem Tag der Auflösung der Kriegsgefangenenabteilung im Stammlager, lebten nur noch 945 sowjetische Kriegsgefangene. Sie wurden nach Birkenau überstellt und zusammen mit anderen Häftlingen untergebracht. Gegen Ende 1942 zählte man in Auschwitz rund 150 sowjetische Kriegsgefangene. Und am 23. April 1943, also fünf Tage vor Eichmanns Kontakt mit Sievers, waren noch genau 145 sowjetische Kriegsgefangene in Auschwitz.
Als Bruno Beger am Morgen des 7. Juni 1943 in Auschwitz eintraf und bald danach mit seinem Auftrag begann, konnte er an Ort und Stelle nur feststellen, dass er ihn nicht erfüllen konnte – falls sein Auftrag lautete, Angehörige einer „asiatischen Rasse“ aufzuspüren. Also hat er sich, so die Schlussfolgerung Reitzensteins, spontan entschieden, statt Russen Juden zu selektieren. Warum? Julien Reitzenstein: „Nach all dem Aufwand bei den involvierten Stellen wäre ein Abbruch der Aktion zu diesem Zeitpunkt eine erneute Blamage für den aufstrebenden Nachwuchswissenschaftler Beger gewesen.“ (S. 446)
Damit ist klar gesagt, dass es faktisch überhaupt nicht möglich war, was sich Reitzenstein nach eigenem Gutdünken als „Auftrag Beger“ ausmalt. Tatsächlich hatte Beger nämlich einen klaren Auftrag bekommen, an dem er inhaltlich auch gar nicht deuteln konnte. Das hätte Reitzenstein in meinem Buch („Die Namen der Nummern. Wie es gelang, die 86 Opfer eines NS-Verbrechens zu identifizieren.“ Hamburg 2004) auf Seite 153 nachlesen können. Am 2. November 1942 hatte das „Ahnenerbe“ den „Aufrag Beger“ quasi auf den Dienstweg gebracht und den Auftrag darin konkret beschrieben. "Ahnenerbe"-Geschäftsführer Sievers übermittelte dem persönlichen Referenten Himmlers, dass »für bestimmte anthropologische Untersuchungen« nun »150 Skelette von Häftlingen bezw. Juden notwendig« seien, »die vom KL Auschwitz zur Verfügung gestellt werden sollen«. Dazu möge das Reichssicherheitsamt die nötige Anweisung geben. Rudolf Brandt wiederum leitete diesen Wunsch weiter an Adolf Eichmann. Ihn informierte er über eine Anordnung Himmlers, laut der Hirt »für seine Forschungen alles Notwendige zur Verfügung gestellt wird«. Im Auftrag Himmlers bitte er deshalb, »den Aufbau der geplanten Skelettsammlung zu ermöglichen«. Die Einzelheiten werde dann Sievers mit ihm regeln. Dem kann man noch bestärkend hinzufügen, wie Sievers am 5. September 1944 in einem Schreiben an Brandt im Nachgang den inneren Zusammenhang des Verbrechens rekapitulierte: "Gemäss Vorschlag vom 9. 2. 42 [ = sogenannte Schädel-"Denkschrift" – Lang] und dortiger Zustimmung vom 23. 2. 42 AR/493/37 [ = Reichsführung der SS – Lang] wurde durch SS-Sturmbannführer Professor Hirt die bisher fehlende Skelettsammlung angelegt. Infolge Umfang der damit verbundenen wissenschaftlichen Arbeit sind Skelettierungsarbeiten noch nicht abgeschlossen."
Reitzenstein freilich formt aus seinem Gedankenkonstrukt eine „Anklageschrift“, die er als eine verbessernde Überarbeitung jener dem Landgericht Frankfurt/Main am 8. Mai 1968 eingereichten Anklageschrift gegen Beger und andere ansieht, von der er ausweislich des Buchtitels („Fritz Bauers letzter Fall“) offenbar annimmt, Bauer habe sie selbst erarbeitet. Dessen verbindlicher Anteil daran bestand in seiner Unterschrift als Behördenleiter. Reitzenstein sagt selbst, was er jetzt speziell mit seiner Fortschreibung bezweckt: „Sie ist damit Ausgangspunkt eines fiktiven Verfahrens, das eine Superrevisionsinstanz mit der Neubeurteilung des Urteils befasst, welches das Schwurgericht Frankfurt am Main gegen Bruno Beger verhängt hatte. Die Leser besetzen in diesem Verfahren die Richterbank der Superrevisionsinstanz. Die Anklage wird ihre Fakten vorlegen und ist zuversichtlich, das Gericht bezüglich Tathergang und Schuld der Angeklagten überzeugen zu können.“ (Vorwort, S. IX) Julien Reitzenstein hätte sich eine Blamage durch seine Art von spekulativer Geschichtsschreibung ersparen sollen. Fritz Bauer, an dessen Ruf er sich wie ein Grabräuber bedient, hat solche Annäherungsversuche nicht verdient.
Tübingen im April 2018
Kleiner Nachtrag aus einer Rede, die Oberstaatsanwalt a.D. Johannes Warlo am 17. Mai 2017 anlässlich der Feierstunde zur Eröffnung des Fritz-Bauer-Saals im Landgericht Frankfurt am Main gehalten hat: "(...) Als Staatsanwalt Joachim Kügler, einer der drei Sitzungsvertreter im Auschwitz-Verfahren und zuständiger Sachbearbeiter für die Aufarbeitung der noch offenen Ermittlungen dieses Verfahrens, bald nach Ende der Hauptverhandlung aus dem Justizdienst ausschied, blieb ein Anhängsel dieses Prozesses unerledigt: der Fall der Skelettsammlung des Prof. August Hirt in Straßburg. (...) Bauer bat mich, mich der Sache anzunehmen, die entsprechenden Akten zusammenzustellen und eine Anklage anzufertigen, die dann über die entsprechende landgerichtliche Staatsanwaltschaft dem Landgericht Frankfurt zugestellt wurde."
Nachzulesen in Einsicht 18, Bulletin des Fritz Bauer Instituts, Frankfurt am Main, Herbst 2017, S. 59.
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Ihre Hans-Joachim Lang
Chronik – Aktuelles
Die Informationen auf dieser Seite gehen über mein 2004 erschienenes Buch „Die Namen der Nummern“ (deutsche Taschenbuch-Ausgabe 2007) hinaus. Hier wird fortlaufend aktualisiert, was sich seit der Buchveröffentlichung rund um dieses Thema ereignet hat und welche zusätzlichen Einzelheiten ich seither recherchiert habe. Das Aktuellste steht gleich am Anfang. Ganz am Ende geht es auch um die Motivation und die Vorrecherchen zu diesem Projekt.
2024
Frühjahr
„Das größte und wertvollste Erbe der Menschen ist das Gedächtnis. Es ist eine Investition der Ethik in die Zeit“. So schreibt der griechische Künstler Xenis Sachinis in einem Begleitwort zu seiner Ausstellung „Gedächtnis und Nemesis“ im Jüdischen Museum von Thessaloniki. Als hölzernen Gedächtnis-Schreine präsentiert er verschiedene Holocaust-Verbrechen. In einem dieser Schreine thematisiert er das Hirt’sche Verbrechen am Beispiel eines der 86 ermordeten Jüdinnen und Juden. Die Nummer 41547 verweist auf die KZ-Nummer, die der Griechin Nety Aruch aus Thessaloniki in Auschwitz in den linken Unterarm tätowiert wurde.
Bild: Mutschler
28. Januar
Vortrag in der Gedenkstätte Neckarelz, einem ehemaligen Nebenlager des KZ Natzweiler-Struthof.
2023
12. - 15. Juni
Seminar in Strasbourg. Nach getrennten intensiven Vorbereitungen von französischen Studierenden an der Université de Strasbourg und von deutschen Studierenden an der Universität Tübingen (Dozenten: Christian Bonah, Reinhard Johler, Hans-Joachim Lang, Jeanne Teboule) über Erinnerungspolitik treffen sich beide Gruppen zu einem Austausch in Strasbourg. Mit dabei sind 15 Familienangehörige der 86, die aus den USA, Israel, Frankreich und der Schweiz angereist sind. Auf dem Programm stehen Besuche im Lager Struthof-Natzweiler mit der neuen Dauerausstellung im Gaskammer-Gebäude, im Anatomischen Institut, im Jüdischen Friedhof und im Gebäude des Europäischen Parlaments.
Abschlussbild des Treffens von Tübinger und Strasbourger Studierenden mit Angehörigen der 86.
17. Juni
Drei Enkelinnen und zwei Enkel von Alice Simon machen vor ihrer Rückkehr in die USA noch einen Abstecher nach Tübingen. Im dortigen Landratsamt werden sie im vollen Saal von Wolfgang Sannwald und einigen Jugendguides befragt, wie sie und ihre Familie von dem Verbrechen an den 86 erfahren haben und wie sie damit umgehen.
30. August
In Berlin werden für zwei der 86 Ermordeten Stolpersteine verlegt. Die Organisation lag in Händen der Stolperstein-Initiative "Prenzlauer Berg". Bedacht werden Harri Bober (und weitere fünf Mitglieder seiner Familie) in der Choriner Straße 26 sowie Emil Sondheim in der Varnhagenstraße 13.
Stolpersteinverlegungen in Berlin: Varnhagenstraße 13 (links) und Chorinerstraße 26
Vorträge in Berlin (Charité), Hannover (Medizinische Hochschule), Tübingen (Anatomisches Institut), Karlsruhe (Pädagogische Hochschule), Eschwege (ehemalige Synagoge), Gießen (Institut für Medizinethik).
2022
2. Mai
Die international zusammengesetzte und unabhängig forschende Commission historique hat nach knapp sechs Jahren Arbeit ihren Abschlussbericht über die Medizinfakultät der Reichsuniversität 1941-1944 vorgelegt und offiziell an den Präsidenten der Straßburger Universität Michel Deneken übergeben. Geleitet wurde die Kommission von Florian Schmaltz (Berlin) und Paul Weindling (Oxford).
Der Bericht ist (in französischer Sprache) online nachlesbar: https://applications.unistra.fr/unistra/visionneuse/rapport-commission-historique-Reichsuniversitat-Strassburg/2/
Ende Mai
In der Deutschen Schule in Thessaloniki erscheint unter dem Titel "Die Namen der Nummern. Geschichte in Übersetzungen - Τα ονόματα των αριθμών. Μεταφράσoντας την ιστορία" ein bemerkenswertes Buch auf Deutsch und Griechisch. Es enthält die 86 Biografien dieser Website, die Schüler dieser Schüler im Neugriechisch-Unterrischt und in einer Übersetzungs-AG (die betreuenden Lehrerinnen: Maria Anthopoulou, Maria Kotidou und Christina Preftisi) aus dem Deutschen ins Griechische übersetzten. Begleitend vermittelte Michael Stier in seinem Geschichtsunterricht die historischen Hintergründe dieses Verbrechens. Der Kunstlehrer der Deutschen Schule Lefteris Raftis hat die 150 Seiten ansprechend gestaltet. Aus Thessaloniki stammen 46 der 86 jüdischen Männer und Frauen.
2018
4. Dezember
"Die Namen der Nummern" erscheint als erweiterte Neuausgabe auf Französisch. Titel: "Des noms derrière des numéros. L'identification des 86 victimes d'un crime nazi. Une enquête." Johann Chapoutot, Professor an der Université Paris-Sorbonne, hat dazu ein Vorwort verfasst und Georges Yoram Federman, Psychiater aus Strasbourg, ein Nachwort. Die Übersetzung besorgte Valentine Meunier. Erschienen ist der Band im Verlag Presses Universitaires De Strasbourg
11. Oktober
Vortrag vor Erstsemestern der Medizinischen Hochschule Hannover.
15. Mai
Zu Besuch in der Deutschen Schule in Thessaloniki. Vortrag vor den Schülerinnen und Schülern in Anwesenheit des Deutschen Generalkonsuls, der ein Grußwort sprach.
Schülerinnen und Schüler der Deutschen Schule in Thessaloniki. Bild:
15. April
Nach den Osterferien begannen die Deutschen Schulen in Den Haag, Oslo, Thessaloniki und Warschau die Biographien der 86 Opfer des auf dieser Website beschriebenen "Ahnenerbe"-Verbrechens auf Niederländisch, Norwegisch, Griechisch und Polnisch zu übersetzen. Sie folgen damit einer Anregung des Freiburger Lehrer-Ehepaars Magali und Frank Hack, die am Deutsch-Französischen Gymnasium in Freiburg mit einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern das Übersetzungsprojekt mit Französisch begannen und dafür in Paris mit dem Prix Corrin ausgezeichnet wurden.
14. März
Vortrag in Lüneburg auf Einladung der Gynäkologinnen und Gynäkologen im Bezirk Lüneburg im Rahmen einer Fortbildungsveranstaltung.
28. Februar
Vortrag in Oświęcim auf Einladung des Museums Auschwitz-Birkenau im Rahmen einer Fortbildung für Guides an der Gedenkstätte.
26. Januar
Vortrag in der Ernst-Abbe-Bücherei Jena auf Einladung der Stadt Jena und des Vereins Lesezeichen.
25. Januar
Verleihung des Prix Corrin in Paris an Schülerinnen und Schüler des Freiburger Deutsch-Französischen Gymnasiums für ihr Übersetzungsprojekt. Unter der Leitung ihrer Lehrer Magali und Frank Hack übersetzten sie die 86 Biographien dieser Website ins Französische. Gratulation und großen Dank!
Siehe dazu auch:
2017
21. November
Nach über 47 Jahren erstmals wieder im Friedrich-Magnus-Schwerd-Gymnasium Speyer, meiner ehemaligen Schule. Als Gast der Reihe "Vorträge zu Wissenschaft und Zeitgeschehen" sprach ich im Foyer zum Thema "Morde für eine Skelettsammlung. Ein NS-Wissenschaftsverbrechen und seine Opfer". (Bild: FMGS)
20. November
Vortrag vor vier zehnten Klassen der Realschule im Bildungszentrum Bonndorf im Südschwarzwald. Eingeladen hatte der Geschichtslehrer Klaus Morath. Er und Leon Stoll, ein ehemaliger Schüler dieser Schule, zeigten mir nachmittags nach dem Unterricht die Orte, an denen sich August Hirt zuletzt aufgehalten hatte. Der Anatomie-Professor war Mitte April 1945 aus Tübingen in Richtung Schwarzwald geflüchtet und hatte in der Nähe des Schluchsees zunächst einen Unterschlupf in einer Waldhütte ("Tiroler Hütte") gefunden. Diese Hütte existiert heute nicht mehr. Von dort aus marschierte er jeden Morgen zu einem im Wald gelegenen Aussiedlerhof, um dort im Radio die Nachrichten zu hören. Am 2. Juni 1945 tötete sich Hirt durch einen Schuss ins Herz. Und zwar in unmittelbarer Nähe des "Steinernen Krizles" oberhalb des Sees (rechts, Bild: Lang). Begraben wurde Hirt auf dem Friedhof der Gemeinde Grafenhausen.
12. Oktober
Vortrag vor Erstsemestern der Medizinischen Hochschule Hannover.
11. Oktober
Einladung des Bezirksverbands Pfalz zu einem Vortrag über die 86 "Ahnenerbe"-Opfer in Strasbourg. Der Vortrag steht im Rahmen einer einwöchigen Jugendgedenkfahrt Pfälzer Jugendlicher. Besondere Note: Es ist eine Gemeinschaftsveranstaltung mit Schülerinnen und Schülern der Ecole Européenne de Strasbourg in deren Aula. Nachmittags ein gemeinsamer Besuch am Grab der 86 auf dem Jüdischen Friedhof in Strasbourg-Cronenbourg.
17. Mai
Vortrag im - tief Luft holen - Rabb Institute for Holocaust Studies am Department of Sociology and Anthropology der Ben Gurion University of the Negev (Israel). Seit Neuestem kooperiert dieses Institut mit dem - nochmals tief Luft holen - Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Der Vortrag begann mit einem Rückblick auf das Leben von Frank Sachnowitz, einem der im KZ Struthof Natzweiler ermordeten 86 Juden. Zu meiner großen Freude ist eigens zu diesem Vortrag der in Israel lebende Neffe von Frank Sachnowitz, Jechiel Porat, angereist.
11. Mai
Für meine Bücher "Die Namen der Nummern" und "Die Frauen von Block 10. Medizinische Experimente in Auschwitz" wird mir der Forschungspreis "Champions Award 2017" des Center for Medicine after the Holocaust (CMATH) verliehen. Äußerer Rahmen ist der Second International Scholars Workshop “Medicine in the Holocaust and Beyond”. 140 Wissenschaftler/innen aus 17 Ländern nehmen an der viertägigen Konferenz teil, die am Western Gallilee College stattfindet.
27. April
Ein Vortrag im Deutsch-Französischen Gymnasium in Freiburg steht am Beginn eines engagierten Übersetzungsprojekts . Schülerinnen und Schüler übersetzen biographische Texte dieser Website über die 86 "Ahnenerbe"-Opfer ins Französische. Angeleitet werden sie von ihren Lehrern Magali und Frank Hack.
Klasse 2nde ES (10. Klasse, Wirtschaftszweig) des Deutsch-Französischen Gymnasiums in Freiburg. Bild: Hack
2016
11. März
Die französische Tageszeitung "Le Monde" weist auf den Film "Le nom des 86" hin und geht auf die zugrundeliegenden Recherchen ein.
März
Die tschechische Übersetzung von "Die Namen der Nummern. Wie es gelang die 86 Opfer eines NS-Verbrechens zu identifizieren" erscheint unter dem Titel "Jména čísel - Jak se podařilo identifikovat 86 obětí jednoho nacistického zločinu"
24. Februar
Nach langen Planungen, intensiven Vorbereitungen, mit professioneller graphischer Gestaltung durch Christiane Hemmerich (Tübingen) und dank finanzieller Unterstützung durch die Hamburger Reemtsma-Stiftung geht der erste "Bauabschnitt" dieser Website online.
Vortrag in Tübingen (Leibniz-Kolleg).
2015
6. September
Beerdigung: Die im Institut für Rechtsmedizin der Universität Straßburg gefundenen forensischen Proben, die Menachem Taffel zuzuordnen sind, wurden – ohne damit die lebhaften Diskussionen in den vergangenen Wochen zu beenden – am späten Vormittag auf dem Jüdischen Friedhof in Strasbourg nach einer Trauerfeier beigesetzt. Mehrere hundert Personen haben teilgenommen, darunter der Oberbürgermeister von Strasbourg und der Präsident der Universität.
Jüdischer Friedhof in Strasbourg, Bild: Lang
9. Juli
Aufsehen ererregende Entdeckung. Raphael Toledano prüft zusammen mit dem Leiter des Instituts für Rechtsmedizin (Institut de Médecine Légale) an der Universität Straßburg, Prof. Jean-Sébastien Raul, historische forensische Proben in einem abgeschlossenen Raum des Instituts und macht einen Fund, über den weltweit in den Medien berichtet wird. Es handelt sich um drei kleine Glasgefäße, in denen winzige Speisereste aus einem menschlichen Magen und fünf Hautstückchen aufbewahrt wurden, die Menachem Taffel zugeordnet werden können, einem der 86 „Ahnenerbe“-Opfer. Diese Proben stammen von den Autopsien, die von französischen Gerichtsmedizinern nach der Entdeckung der Leichen vorgenommen wurden. Einer von ihnen, Prof. Camille Simonin, hatte sie in seinem Institut behalten und 1952 einem französischen Militärgericht als Beweismittel angeboten. Danach waren sie offenbar in Vergessenheit geraten, bis Toledano 2013 in einem französischen Archiv das Schreiben Simonins entdeckte. Rauls Vorgänger hatte die Überprüfung verweigert, die nun zu dem sensationellen Fund führte. Toledano sagte konsterniert: „Was Simonin von Hirts Opfern aufbewahrt hat, ist genau dort gelandet, wo Hirt sie in seinem Rassenwahn haben wollte: im Museum."
21. Mai
Besuch am Grab. Debbie Konkol, Joanne Weinberg und Chris Halverson besuchen mit ihren Ehemännern das Grab ihrer Großmutter Alice Simon. Am Grabstein legen sie Steine nieder, die sie aus den USA mitgebracht haben: Drei Steine in ihrem eigenen Namen, zwei weitere für ihre Geschwister Betsy Kelnhofer und John Simon, sowie für die beiden anderen Enkel von Alice Simon, nämlich Peter Andersen und Kris Andersen.
Mitglieder der Familie Simon auf dem Jüdischen Friedhof in Strasbourg.
20. Mai
Angehörige in Tübingen. „Den Holocaust erinnern“ ist eine Gesprächsrunde im Rittersaal von Schloss Hohentübingen überschrieben, die von der Journalistin Ulrike Pfeil moderiert wird. Drei aus den USA angereiste Enkelinnen von Alice Simon (eines der 86 „Ahnenerbe“-Mordopfer) sprechen mit Hans-Joachim Lang darüber, wie gegenwärtig in ihren Familien der Holocaust geblieben ist. Die Enkelinnen sind Chris Halverson, Joanne Weinberg und Debbie Konkol. Veranstalter ist das Museum der Universität Tübingen (MUT).
Gesprächsrunde im Rittersaal von Schloss Hohentübingen in Tübingen. Von links nach rechts: Chris Halverson, Joanne Weinberg, Ulrike Pfeil (Moderatorin), Debbie Konkol, Hans-Joachim Lang.
29. April
Kino Museum in Tübingen, Deutsche Erstaufführung des Dokumentarfilms „Le nom des 86“ (mit deutschen Untertiteln) in Anwesenheit der beiden Filmemacher.
Dr. Raphael Toledano (rechts) und Emmanuel Heyd im Tübinger Kino Museum.
27. April
Staatsbesuch. Auf dem Gelände des früheren Konzentrationslager Natzweiler-Struthof gedenkt Frankreichs Staatspräsident François Hollande (Mitte) mit führenden Europapolitikern der NS-Opfer gedacht. Zuvor enthüllten sie neben der ehemaligen Gaskammer zwei Gedenksteine. Der rechte Stein nennt die 86 Namen der hier ermordeten Jüdinnen und Juden. An der Zeremonie beteiligen sich auch (rechts neben Hollande): EU-Ratspräsident Donald Tusk, die lettische Regierungschefin Laimdota Straujuma (ihr Land hat zu diesem Zeitpunkt den EU-Ratsvorsitz inne), der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz und der Generalsekretär des Europarates, Thorbjørn Jagland.
Enthüllung der Gedenksteine neben der Gaskammer des KZ Natzweiler-Struthof. In der Mitte der Französische Staatspräsident François Hollande. Bild: Lang
23. April
Eröffnung der Ausstellung „In Fleischhackers Händen“ im Schloss Hohentübingen (bis 28. Juni). Hans Fleischhacker war einer der beiden Anthropologen, die im Auftrag der SS-Wissenschaftsorganisation „Ahnenerbe“ im Juni 1943 in Auschwitz unter den Häftlingen Jüdinnen und Juden für eine Skelettsammlung selektierten, die an der Reichsuniversität Straßburg entstehen sollte. Fleischhacker hatte am 8. Juni an der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen noch seine Probevorlesung gehalten und damit die Habilitationsprüfung erfolgreich abgeschlossen. Am Tag darauf reiste er nach Auschwitz.
Aufsatz: Fleischhackers (un)vergessene Opfer. In: Jens Kolata u.a. (Hg.): In Fleischhackers Händen. Wissenschaft, Politik und das 20. Jahrhundert. Ausstellungskatalog. Tübingen 2015, S. 185-199.
Vorträge in Berlin (Inselgalerie), Konstanz (Volkshochschule), Wangen/Höri (Freundeskreis Jacob Picard), Tübingen (Universität: Studium Generale), Tübingen (Universität: Internationale Programme), Tübingen (Carlo-Schmid-Gymnasium) .
2014
1. Dezember
Cinéma L'Odyssée in Strasbourg, Premiere des Dokumentarfilms „Le nom des 86“ der beiden französischen Filmemacher Dr. Raphael Toledano und Emmanuel Heyd.
Filmpremiere im Cinéma L’Odysée am 1. Dezember 2014, Bild: Truong-Ngoc
Vorträge in Flensburg (Volkshochschule), Göppingen (Jüdisches Museum), Dudenhofen/Pfalz (Bürgerhaus), Prag (Heinrich-Böll-Stiftung), Thessaloniki (Goethe-Institut), Ofterdingen (Bücherei), Tübingen (Universität: Internationale Programme), Tailfingen (KZ-Gedenkstätte).
2013
Aufsatz in den „Annals of Anatomy“, 195 (2013) 373-380. Titel: August Hirt and “extraordinary opportunities for cadaver delivery” to anatomical institutes in National Socialism: A murderous change in paradigm.
Vorträge in Groß Gerau (Volkshochschule + Arbeit und Leben), Köln (Ärztekongress), Aachen (Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin).
2012
Vorträge in Berlin (Konrad-Adenauer-Stiftung), Hannover (Anatomisches Institut), Tübingen (Ludwig-Uhland-Institut).
2011
Oktober
Erstveröffentlichung von „Die Frauen in Block 10. Medizinische Versuche in Auschwitz.“ Hoffmann und Campe, Hamburg. Das Buch ist eine Fortschreibung von „Die Namen der Nummern“. Denn alle 29 Frauen, die im KZ Natzweiler im Auftrag des „Ahnenerbe“ ermordet wurden, haben die Anthropologen Bruno Beger und Hans Fleischhacker in Block 10 ausgewählt. Darum wurde in diesem Buch vertieft, was es mit diesem Block auf sich hatte.
Vorträge und Lesungen: Berlin (Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas), München (Anatomisches Institut der Universität), Tübingen (Osiandersche Buchhandlung).
2010
Spiegel online: „Die Spur der Skelette“
http://www.spiegel.de/einestages/ns-verbrechen-a-950002.html
Vortrag in Würzburg (Anatomisches Institut der Universität).
2008
18. Oktober
Die Medizinische Fakultät der Tübinger Universität verleiht die Leonhart-Fuchs-Medaille für „Verdienste um die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, für die Geschichtsschreibung aus der Perspektive der Opfer und insbesondere für das Buch ‚Die Namen der Nummern‘“.
2007
April
„Die Namen der Nummern” erscheint als Taschenbuchausgabe in der Schwarzen Reihe des Fischer-Verlags, Frankfurt/Main.
Mai
Die polnische Übersetzung von "Die Namen der Nummern" erscheint im Verlag Wołoszański, Warschau, unter dem Titel: „Nazwiska numerów”.
Lesungen und Vorträge in Isney (Refektorium im Schloss), Thessaloniki (Goethe-Institut, gemeinsam mit der Jüdischen Gemeinde), Berlin (Leibniz-Gymnasium), Łódź (Muzeum Kinematografii).
2006
Lesungen und Vorträge in Karlsruhe (Ständehaussaal), Osthofen (KZ-Gedenkstätte), Heidelberg (Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sintu und Roma), Stuttgart (Mädchen-Gymnasium St. Agnes), Paris (Mémorial de la Shoah), Krakau (Zentrum für Jüdische Kultur), Auschwitz (Jugendbegegnungsstätte), Sindelfingen (Gymnasium in den Pfarrwiesen).
2005
Juli
Hans-Joachim Lang vor der Gedenktafel unmittelbar neben der Gaskammer, Bild: Truong-Ngoc
Vor der der Gaskammer des ehemaligen KZ Natzweiler-Struthof wird eine Gedenktafel mit den Namen der 86 Opfer angebracht.
11. Dezember
Grabstein auf dem Jüdischen Friedhof in Strasbourg mit den 86 Namen. Bild: Lang
Auf dem Jüdischen Friedhof in Straßburg befindet sich ein Massengrab, auf dem die 86 „Ahnenerbe“-Opfer in einem Massengrab beigesetzt sind. Hier stand bislang ein Grabstein, in dem nur allgemein an das Verbrechen erinnert wurde. In einer feierlichen Zeremonie wird am späten Vormittag ein Grabstein enthüllt, auf dem alle 86 Namen eingraviert sind. Zahlreiche Verwandte aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Israel und Österreich sind gekommen, aus Griechenland auch ein Repräsentant der Jüdischen Gemeinde von Thessaloniki. Zugegen sind auch der Präsident des Dachverbands der jüdischen Organisationen Frankreichs sowie führende französische Regional- und Kommunalpolitiker.
Zeremonie auf dem Jüdischen Friedhof in Strasbourg. Bild: Lang
Zuvor wird am Eingang des alten Anatomischen Instituts der Universität Strasbourg eine Gedenktafel enthüllt, die an das Verbrechen des Prof. August Hirt und seiner Helfer erinnert.
Vor der Enthüllung der Gedenktafel: Hans-Joachim Lang (links mit Hut) im Gespräch mit Beate Klarsfeld und Jean Kahn. Bild: Jechiel Porat
Aus Rezensionen:
Urban Wiesing zählt die Morde an den 86 jüdischen Frauen und Männer zu den “schrecklichsten Verbrechen nationalsozialistischer Ärzte”. Wiesing ist Professor für Medizin-Ethik an der Universität Tübingen. In der „Zeitschrift für medizinische Ethik” (61. Jahrgang, Ausgabe 3/2005) schrieb er: „Dieses Buch ist außergewöhnlich. (…) Der Autor ist Journalist in Tübingen. In jahrelangen, umfangreichen Recherchen ist es ihm gelungen, den Opfern die Namenlosigkeit zu nehmen. Das Buch berichtet von der akribischen, zuweilen detektivischen Spurensuche, von den glücklichen Zufällen der Überlieferung, von Unterstützung, von Rückschlägen und Schwierigkeiten, von den entscheidenden Funden. Es beschreibt Menschen, ihre Geschichten, ihr Leben mit ihren Familien, mit all den Freuden, Leiden und Unwägbarkeiten. Es berichtet von ihrer Deportation nach Auschwitz, ihrer „Vermessung“, ihrer weiteren Verschleppung ins KZ Natzweiler-Struthof und ihrer Ermordung. Allen Lebensläufen ist eines gemein: Sie enden nach weiten Wegen durch Europa als leblose Körper in der Straßburger Anatomie, weil Ärzte und Anthropologen aus pseudowissenschaftlichem, von Rassenwahn entstelltem Interesse eine Sammlung jüdischer Skelette anlegen wollten, der Nachwelt zur Dokumentation. Das Buch gibt Einblick in den Organisationsablauf und die Bürokratie einer Medizin, die sich in ihrer vermeintlichen Wissenschaftlichkeit zu perfidem Mord befugt glaubt. Es vermittelt dem Leser das Selbstverständnis von Ärzten, die an ihrem Tun nicht zweifelten – auch nicht nach dem Kriege.“
Imanuel Geiss, Professor für Neuere Geschichte in Bremen, im Jahrbuch „Extremismus & Demokratie“ (17. Jahrgang 2005): „(…) In einer makabren Puzzle-Anstrengung fügte der gelernte Germanist und Journalist unzählige über den Globus verstreute Einzelteile zu dem Bild zusammen, das er in seinem Buch entwirft. Sein Material fand er mit detektivischem Spürsinn auf einer Schnitzeljagd des Todes in Archiven, durch Befragung von Angehörigen der Opfer, die er scharfsinnig ausfindig machte, zuletzt auch aus dem Internet. Allein schon die Beschreibung dieses Findungsprozesses lohnt die Lektüre des Buches. (…)
Schritt für Schritt machte Lang aus toten Nummern wieder Namen, teilweise mit Gesichtern (Photos) und Kenntnis ihres vergangenen individuellen Lebens. (…) Das Buch verschiebt das bisherige Hauptaugenmerk von den Tätern auf die nun nicht mehr anonymen Opfer. (…). Lebens- und Todeswege der 86 summieren sich zu einem bewegenden Stück europäischer Geschichte, vor allem natürlich der europäischen Judenheit.“
Lesungen und Vorträge in Heidelberg (Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte), Berlin (Frida-Leider-Zentrum), Tübingen (Edith-Stein-Karmel), Strasbourg (Universität), Freiburg (Buchhandlung Jos Fritz).
2004
August
Erstveröffentlichung von „Die Namen der Nummern. Wie es gelang, die 86 Opfer eines NS-Verbrechens zu identifizieren“ im Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg.
Juni
Das noch unveröffentlichte Buch-Manuskript „Die Namen der Nummern” wird im Rathaus von Brüssel mit dem Preis der Fondation Auschwitz ausgezeichnet.
14. Dezember
Aus einem Interview mit mir in der "tageszeitung“.
taz: Was trieb Sie all die Zeit an – es waren immerhin ja gut fünf Jahre?
Lang: Es war die Frage: Was können das für Leute gewesen sein, die dort umgebracht wurden? Wo kamen sie her? Zunächst dachte ich noch, ich könnte die Namen schnell in einem Archiv finden, aber in den Akten war kein einziger Hinweis darauf. Als mir ein Auschwitz-Überlebender schließlich sagte, dass man sie wahrscheinlich nicht mehr herausfinden könne, wollte ich unbedingt weiterforschen.
taz: Weshalb war es Ihnen so wichtig? Weil es nicht sein kann oder darf, dass die Opfer anonym bleiben?
Lang: Sein kann, ja. Angesichts von sechs Millionen ermordeten Juden kann man sich irgendwie mit Anonymität abfinden, die Zahl ist so gewaltig groß. Aber bei diesem Verbrechen schien die Zahl - 86 - überschaubar, zumal ich die Abläufe ja schon einigermaßen rekonstruiert hatte. Als ich dann auf die Zeugenaussage des Henry Henrypierre stieß, der sich damals die Nummern der Opfer notiert hatte, ließ mich dies nicht mehr ruhen. Diese Notizen müssen doch irgendwo sein, dachte ich, undenkbar, dass sie weggeworfen wurden! Das Original habe ich trotzdem nicht gefunden, aber die Kopie einer Abschrift - nach zwei Jahren Recherche. Dieser Moment war eigentlich das erste große Erlebnis. Vollends beflügelt hat mich, als ich sehr viel später dann zum ersten Mal Angehörige getroffen habe. Da wollte ich es unbedingt zu Ende bringen. (...)
Das komplette Interview hier: http://www.taz.de/1/archiv/?dig=2004/12/18/a0349
Rezensionen
- Khosrow Nosratian am 6. Dezember im Deutschlandfunk: „(…) Das überaus lesenswerte Buch verdeutlicht das engmaschige Netz aus Gelehrtenstube und Gestapozentrale, aus dem das Räderwerk des Holocaust entwickelt wurde. Und doch gelingt es dem zeitgeschichtlich versierten Autor stets, im Gegenzug zum gruseligen "Ahnenerbe" seine eigene forschungspolitische Absicht überzeugend zum Ausdruck zu bringen – die Ermordeten in lebendiger Erinnerung zu halte.“
- Bernd Hesslein am 14. Oktober 2004 in „Die Zeit“: „(…) Ein mühsames Unterfangen, oftmals an der Schwelle des Scheiterns. (…) Am Ende jedoch, nach fünf Jahren Reisen und mühseligen Recherchen, passen Nummern und Namen der Ermordeten zusammen. Das grausige Puzzle ist vollendet, die Lücke der Namenlosigkeit, wie Hans-Joachim Lang es nennt, geschlossen. Darüber hinaus liefert der Autor mit seiner Arbeit einen tiefenscharfen Einblick in die Perversion des "Denkens", das die Mediziner unter dem Totenkopf beherrschte.“
- Anselm Doering-Manteuffel, Professor für Zeitgeschichte, schrieb am 30. September 2004 im „Schwäbischen Tagblatt“ unter dem Titel: “Inhaltsleere Gedenkrituale sind ihm zutiefst suspekt“ in eine ausführlichen Buchrezension: „Was Hans-Joachim Lang vor einigen Jahren im TAGBLATT über Salomon Korn schrieb, gilt ebenso für ihn selbst. Ohne je in einen pauschal anklagenden, bloß moralisierenden Ton zu verfallen, schreibt er kontinuierlich über die Leidensgeschichte der Juden im nationalsozialistischen Deutschland. (…) Lang recherchiert gründlich und präsentiert detailgenaue Ergebnisse. (…) In jahrelanger detektivischer Arbeit ist es Lang gelungen, die Namen ausfindig zu machen, Angehörige aufzuspüren, sie über das Schicksal der Toten zu informieren und sich zugleich ein Bild von den Ermordeten zu machen. (…) ,Die Täter sollen nicht das letzte Wort gehabt haben‘, schreibt er am Ende. Darum sei es erforderlich, sich der Ermordeten zu erinnern, ihre Namen zu suchen, sie im Gedächtnis zu bewahren und so einen Teil der deutschen und europäischen Vergangenheit wiederzufinden. Ein bewegendes Buch.“
- Hans-Joachim Lang am 19. August 2004 Hintergrund-Seite zum Thema "Skelette für Straßburg" in der "Zeit".
Siehe: http://www.zeit.de/2004/35/A-Strassburg
Lesungen in Brüssel (Fondation Auschwitz), Tübingen (Buchhandlung Gastl), Frankfurt (Fritz-Bauer-Institut).
2003
21. September
Vortrag in Strasbourg bei einem Kolloquium des Cercle Taffel über den Stand der Recherchen. Am Ende des Vortrags erstmalige öffentliche Verlesung der Namen der 86 jüdischen Frauen und Männer, die Opfer des „Ahnenerbe“-Verbrechens wurden. In ehrendem Gedenken erheben sich die Zuhörerinnen und Zuhörer von ihren Plätzen.
1999 – 2003
Besuch weiterer Archive, unter anderem in Oświęcim (Archiv der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau) und Jerusalem (Archiv der Gedenkstätte Yad Vashem), umfangreiche Korrespondenz mit lokalen Archiven und Behörden in Belgien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Niederlande, Österreich und Polen sowie Beginn der Korrespondenz und Begegnungen mit Familienangehörigen der 86 „Ahnenerbe“-Opfer.
1999
Nach langer Suche gelingt am 4. März der erste wichtige Schritt auf der Suche nach den Identitäten der 86 „Ahnenerbe“-Opfer: Entdeckung einer Kopie des gesuchten Dokuments, auf dem die 86 KZ-Nummern notiert sind, im United States Holocaust Museum in Washington. Es ist eine Abschrift der französischen Militärpolizei von der Liste, die Henri Henrypierre für die Zeit nach der Befreiung Straßburgs gerettet hat. Mit dieser Nummern-Liste lassen sich dank überlieferter Dokumente des KZ Auschwitz zunächst die Orte ermitteln, woher die 86 Männer und Frauen nach Auschwitz deportiert wurden: Oslo (N), Białystok (PL), Oranczyce (PL), Berlin (D), Thessaloniki (GR), Trier (D), Drancy (F), Mechelen (B), Westerbork (NL). Im nächsten Schritt und mit Hilfe eines Dokuments der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau werden aus den Nummern Namen. Aber noch keine Biografien.
1998
Die Täterseite meines Forschungsprojekts über die „Ahnenerbe“-Morde an den 86 Juden ist vorläufig abgeschlossen. Dazu erscheinen zwei Aufsätze: Einer in der Wochenendbeilage der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 21. März 1998 („Nicht alles ging nach Plan. Der SS-Anatom August Hirt: sein mörderisches Wirken, sein Verschwinden und sein Verbleib.“) und ein weiterer in der Regionalgeschichtszeitschrift „Land zwischen Hochrhein und Südschwarzwald“ (Titel: „Grab Nr. 27, Grafenhausen, August Hirt. Über die Verbrechen und das Lebensende eines weltweit gesuchten Anatatomieprofessors.“)
1997 – 1998
Beginn der intensivierten Suche nach den Namen der 86 „Ahnenerbe“-Opfer. Erster Anhaltspunkt ist ein Brief, den SS-„Ahnenerbe“-Geschäftsführer Wolfram Sievers am 21. Juni 1943 an Adolf Eichmann schickte. Unter dem Betreff „Aufbau einer Sammlung von Skeletten“ teilte er mit, dass die anthropologischen Arbeiten abgeschlossen seien und die in Frage kommenden Häftlinge nach Männern und Frauen getrennt „in je einem Krankenbau des KL Auschwitz untergebracht“ seien. Weiter heißt es: „Ein namentliches Verzeichnis der ausgesuchten Personen ist beigefügt.“
Die Suche nach dieser Liste, unter anderem auch in den National Archives in Washington, bleibt ergebnislos. Laut Vermerk auf dem Schreiben war der Brief fünf Mal ausgefertigt worden. Die im Nürnberger Ärzteprozess vorgelegte und jetzt der Forschung zugängliche Fassung ist eine nachrichtlich ohne Anlage an Rudolf Brandt (Persönlicher Referent von SS-Führer Heinrich Himmler) geschickte Durchschrift. Die Überlieferung aus Eichmanns Referat im Reichssicherheitshauptamt fehlt völlig.
Von nun an konzentrierte sich die weitere Suche auf eine Aussage von Henri Henrypierre vor dem Nürnberger Ärzteprozess. Henrypierre, ein Mitarbeiter von August Hirt am Anatomischen Institut der Reichsuniversität Straßburg, hatte im August 1943 die vom KZ Natzweiler-Struthof gebrachten 86 Leichen entgegengenommen. An deren Unterarmen waren ihm merkwürdige Zahlen aufgefallen, die er daraufhin nicht nur ins Leichenbuch des Instituts eintrug, sondern auch noch heimlich auf einen Zettel notierte, den er in der Wohnung seiner Lebensgefährtin versteckte.
Probleme bereiten mir die französischen Archivgesetze. Ein beim französischen Verteidigungsministerium eingereichter Antrag auf Verkürzung der Sperrfrist auf Dokumente der Militärjustiz wird abgelehnt – trotz Empfehlungen durch die deutsche Justizministerin Herta Däubler-Gmelin und den französischen Holocaust-Forscher Serge Klarsfeld, den ich eigens in Paris besuche.
1996
14. Januar
Hermann Langbein erfährt von mir in einem Brief als erster meinen Entschluss „neben meinen Forschungen noch (so weit es geht) die Lebensschicksale dieser 86 Leute aufzuklären“.
1994 – 1995
Recherchen in den Bundesarchiven Bern und Berlin sowie im Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, im Generallandesarchiv Karlsruhe und im Staatsarchiv Nürnberg. Ein Zwischenergebnis als Hintergrund-Seite im „Schwäbischen Tagblatt“ vom 8. Juli 1995: „Alle Welt suchte den Anatomie-Professor. Wie sich der SS-Mediziner August Hirt hier und anderswo der Verantwortung entzog.“ Briefwechsel mit Renate Hirt, der Tochter des Anatomie-Professors. Korrespondenz mit Hermann Langbein, dem damaligen Sekretär des „Comité International des Camps“, über Forschungsprobleme.
1993
Vergebliche Versuche, überregionale Tages- und Wochenzeitungen für einen Beitrag zum Jahrestag zu erinnern: Im August waren es 50 Jahre her, dass die 86 jüdischen Frauen und Männer ermordet wurden.
1992
In keinen der damals gängigen Monographien über den Nationalsozialismus war damals etwas über die Todesumstände und den Todesort von August Hirt zu erfahren, auch nichts darüber, wo sich sein Grab befindet. Recherchen im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern und im Deutschen Bundesarchiv in Berlin, dem Landesarchiv Ludwigsburg und in August Hirts letztem Aufenthaltsort Schönenbach im Schwarzwald brachten endlich Klarheit.
1984/1985
Die anhaltende Diskussion um die Tübinger Anthropologin Sophie Ehrhardt führt zu eigenen Forschungen und Veröffentlichungen über die Geschichte des Fachs. Dabei werde ich auf den Anatomie-Professor August Hirt aufmerksam. Hirt hatte im November 1944 nach einer Dienstreise nicht mehr in sein Institut zurückkehren können, weil Straßburg inzwischen von den Alliierten besetzt worden war. Er fand eine Bleibe in Tübingen, wohin die Verwaltung und zahlreiche Institute der Reichsuniversität ausgelagert worden waren. Aus meinen Recherchen dazu entsteht mein erster Aufsatz zu einem beginnenden Lebensthema: „SS-Wissenschaftler ließen 86 KZ-Häftlinge ermorden: Für den Aufbau einer Skelettsammlung. Dunkle Querverbindungen zum ,Tübinger Anatomenlager‘. (Hintergrund-Seite in „Schwäbisches Tagblatt“ vom 21. Dezember 1985)
1981
23. September
Teilnahme als Journalist an der 17. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik in Göttingen. Dort werden die aus dem In- und Ausland angereisten Wissenschaftler mit dem nationalsozialistischen Erbe der Anthropologie konfrontiert. Forderungen stehen im Raum, die Tübinger Anthropologin Prof. Sophie Ehrhardt aus der Gesellschaft auszuschließen.
Dass Ehrhardt, die in der Zeit des Nationalsozialismus in verschiedenen Positionen als Rassenforscherin aktiv war, 1980 mit alten Akten dieser Behörde, die sie teils selbst erstellt hatte, im Tübinger Universitätsarchiv forschte, hatte eine Gruppe von Sinti zu einem spektakulären Sit-in veranlasst.
Die Aktion bewirkte, dass vielerorts über Rassenforschung und das Schicksal deutscher Sinti und Roma diskutiert wurde. Meiner ersten Hintergrund-Seite über Geschichte und Gegenwart der Anthropologie am 3. Oktober 1981 im „Schwäbischen Tagblatt“ folgt eine intensive eigene Beschäftigung mit diesem Thema.
2. – 9. September
Auf die erstmalige offizielle Einladung durch die Stadt Tübingen kommen jüdische Emigranten in ihre alte Heimatstadt. Auf dem einwöchigen Besuchsprogramm stehen ein städtischer Empfang im Rathaus mit dem Literaturwissenschaftler (und rückgekehrter Emigrant) Hans Mayer sowie Diskussionsveranstaltungen und Ausflüge in die nähere Umgebung. Als Journalist habe ich viele Gelegenheiten, mit den aus Großbritannien, Israel, Portugal, Südafrika, USA angereisten Ex-Tübingern ins Gespräch zu kommen. Die emotional bewegenden und geistig anregenden Begegnungen geben mir Anstoß, nicht nur die die Stadt Tübingen, sondern insgesamt die Geschichte des Nationalsozialismus auch aus der Perspektive der Opfer kennenlernen zu wollen.